Was ist

Hinter uns liegen drei Tage re:publica, viele persönliche Treffen, ein paar Panels und ein Eindruck, der bleibt: Die Zeiten, in denen die Netzgemeinde in Berlin eine goldene digitale Zukunft beschwor, sind vorbei.

Wir nutzen das für eine Nachbetrachtung. Dabei gehen wir nicht auf einzelne Vorträge ein, das wäre angesichts der riesigen Auswahl beliebig. Stattdessen versuchen wir, die re:publica in einen größeren Kontext zu stellen. Im Zentrum steht die Frage: Wie hängt die Evolution der größten deutschsprachigen Digitalkonferenz mit unserem Blick auf Social Media und das Netz zusammen?

Wie sich re:publica und Netz verändert haben

Es ist unmöglich, eine Konferenz mit Zehntausenden Besucherïnnen, Hunderten Panels und ähnlich vielen Themen so zusammenzufassen, dass es allen gerecht wird. Frag zehn Teilnehmende, bekomme elf Meinungen – jede und jeder erlebt die Veranstaltung anders.

Trotzdem zog sich ein überwölbendes Gefühl durch viele Gespräche: Die Konferenz ist zwar nach zwei Jahren in der Arena Berlin zum bewährten Veranstaltungsort ans Gleisdreieck zurückgekehrt – aber sie ist nicht mehr das, was sie einmal war.

Das muss überhaupt nichts Schlechtes sein, schließlich haben sich auch das Netz und die Welt drastisch verändert. 2007, als die re:publica zum ersten Mal ausgerichtet wurde, hieß der US-Präsident George W. Bush, und StudiVZ war in Deutschland größer als Facebook. Mit Globalisierung und Digitalisierung verband sich die Hoffnung, dass die Welt zusammenwächst und zu einem friedlichen, globalen Dorf wird.

Von diesem Optimismus ist heute wenig übrig geblieben. Der Brexit, Donald Trump und das Erstarken rechtsextremer Bewegungen haben viele vermeintliche Gewissheiten erschüttert. Russlands Überfall auf die Ukraine, die neue alte Spaltung zwischen Ost und West und der Erfolg der AfD waren der Sargnagel. Offenbar war es ein Irrglaube, dass technologischer und gesellschaftlicher Fortschritt Hand in Hand gehen.

Die politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen sind eng mit technologischen Entwicklungen verknüpft. Wenn sie an Social Media denken, sehen die meisten Menschen eher Schattenseiten als Chancen. In Zeiten von organisiertem Hass, Hack-and-Leak-Angriffen, Desinformationskampagnen, staatlicher Propaganda und einem zunehmend verrohten digitalem Diskurs gilt das Netz vielen nicht mehr als Verheißung, sondern als Bedrohung.

Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig, dass Deutschland wohl bekanntester und definitiv markantester Technik-Optimist zum zweiten Mal infolge nicht dabei war. Der rote Iro von Sascha Lobo gehörte jahrelang zur re:publica wie Club Mate und Bohemian Rhapsody zum Abschied. Doch statt in Berlin seine Rede zur digitalen Lage der Nation zu halten, zog Lobo erneut das Marketing-Festival OMR vor, wo er über die "Vorbereitung auf die Große KI-Transformation" sprach (OMR).

Besser bezahlt? Mit Sicherheit. Vielleicht passt Lobo aber auch einfach nicht mehr zur re:publica. Lange Zeit wurde dort zwar mit Vorliebe geschimpft (auf die deutsche Digitalpolitik), gemeckert (über stagnierenden Breitbandausbau) und protestiert (gegen Vorratsdatenspeicherung), die Grundhaltung war aber optimistisch: Technologie ist toll, Fortschritt ist wunderbar, das Netz ist eine großartige Erfindung.

Anderthalb Jahrzehnte sind Digitalpolitik, Breitbandausbau und Vorratsdatenspeicherung immer noch Anlass für Spott und Wut. Der Vibe ist aber ein anderer. Gerade mit Blick auf generative KI, deren Potenzial Lobo in seinen Spiegel-Kolumnen immer wieder preist, gaben in Berlin Mahnerinnen und Warner den Ton an. Ein paar exemplarische Panel-Titel verdeutlichen das:

  • KI wird uns alle retten! Es sei denn, sie tut es nicht.
  • Digitales Freiwild? Das Urheberrecht in Zeiten der KI
  • Generative KI hat Vorurteile – who cares? Learnings einer Bias Testing
  • The Backlash to the AI-Fueled Data Center Boom
  • "Tech won't save us" live: Paris Marx & tante

Das passt gut zu den Ereignissen der vergangenen Woche. Googles KI-Überblicke, die wir in der Ausgabe „Das Ende von Google, wie wir es kennen“ beschrieben, haben sich binnen weniger Tage zur PR-Katastrophe entwickelt, die Zweifel aufkommen lassen, ob Sprachmodelle überhaupt zur Websuche taugen:

Auch beim anderen großen KI-Unternehmen läuft es kaum besser. Nach einer Woche voller Negativ-Schlagzeilen, die uns zum Fazit „OpenAI ist auch nur ein stinknormales Tech-Unternehmen“ verleiteten, geht es für Sam Altman genauso unerfreulich weiter:

Und dann berichtet das Wall Street Journal auch noch, dass Donald Trump erwäge, im Falle eines Wahlsiegs Elon Musk zu einem seiner Berater im Weißen Haus zu machen. Da fällt es schon schwer, nicht zum Zyniker zu werden.

Genug der tagesaktuellen Geschehnisse aus der Tech-Welt, zurück zur re:publica. Natürlich gab es auch Vorträge, die sich um Chancen und Möglichkeiten von KI drehten. Trotzdem kamen auf fast allen Panels, von denen wir etwas mitbekommen haben, auch die negativen Aspekte zur Sprache – und zwar ziemlich prominent. Aus „Technologie ist toll, aber wir müssen die Risiken im Blick behalten“ ist „Technologie hat Risiken, aber manchmal kann sie auch nützlich sein“ geworden.

Meike Laaff hat für ZEIT ONLINE aufgeschrieben, wie sie die re:publica wahrgenommen hat. Ihre Eindrücke decken sich mit unseren:

All das gehört vielleicht dazu, zu dem mittleren Alter, das die re:publica-Konferenz (und viele ihrer Teilnehmer) inzwischen erreicht haben. Dann nämlich stellt sich oft heraus: Es ist halt leider vieles gar nicht so einfach, nicht so eindeutig digital besser wie einst erhofft. Oder so einfach zu verändern wie gedacht. Wie hatte man sich, auch auf der re:publica, immer wieder vorgestellt, wie schön es im Netz werden könnte. Sollte. Dezentral. Gemeinwohlorientiert. Open Source. Und überhaupt.
Vergleicht man das mit dem, was wir jetzt haben, muss aber man sagen: Von allen denkbaren digitalen Zukünften sind wir in einer der unerfreulicheren gelandet. In einer, in der sich immer mehr Macht bei sehr wenigen Großkonzernen ballt. In einer, in der viele soziale Netzwerke Schrei- und Hassräume geworden sind. In der technisch zwar viel Fantastisches möglich ist, davon aber längst nicht alle profitieren.

Das klingt alles ziemlich ernüchtert und ernüchternd, ist aber eine treffende Zustandsbeschreibung des Webs und der Welt, in der wir leben. Die 18. re:publica ist passend zu ihrem Alter erwachsen geworden. Die wilde Jugend ist vorbei, jetzt warten Studium und Bausparvertrag … okay, nur Studium. Bei allem Realismus und Pragmatismus ist die re:publica und ihre allmählich ergrauende Kernzielgruppe dann doch noch weit weg von Reihenhaus und Schwäbisch Hall.

Be smart

Wir sind uns ziemlich sicher, dass sich die re:publica im vergangenen Jahrzehnt verändert hat. Diesen Eindruck teilen wir mit mehr als einem halben Dutzend Personen, mit denen wir darüber gesprochen haben. Zur Wahrheit gehört aber ebenso: Auch wir haben uns in der Zwischenzeit verändert – und die Menschen, mit denen wir uns austauschen, sind kein repräsentativer Querschnitt des Publikums mehr.

Früher war für uns fast alles neu und aufregend: die Vorträge, die Menschen, die Stimmung. Mittlerweile ist die re:publica zur Routine geworden. Wir kennen viele der Vortragenden und wissen, was sie sagen. Die persönlichen Begegnungen sind nach wie vor schön, aber nach drei Tagen können wir die inhaltlich inspirierenden Momente an einer Hand abzählen.

Vielleicht sagt das mehr über uns als über die re:publica. Die Konferenz ist größer und thematisch offener geworden als in ihrer Anfangszeit. Das kann sich etwas beliebig anfühlen, man könnte aber auch sagen: Endlich spricht das Programm mehr Menschen an. Die Tincon-Crowd halbiert mal eben den Altersschnitt, und die Frequenz, mit der man bekannten Gesichtern begegnet, ist gesunken – weil Leute kommen, die vor fünf Jahren noch nicht mal wussten, was die re:publica ist.

Das Social Media Watchblog geht ins elfte Jahr, bald verschicken wir Ausgabe Nummer 1000. Gerade fühlt sich unsere Arbeit an wie die re:publica: routiniert und ein wenig repetitiv. Die Pause, die wir uns beide im Sommer nehmen, kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Please read on!


Wichtige Hinweise zum Sommerfahrplan

Hey, im Juni, Juli und Augst wird sich unser Angebot anders anfühlen als üblich. Das hat zwei Gründe: Simon hat ein tolles Stipendium ergattert und arbeitet intensiv zum Thema KI. Da bleibt kaum Raum für Analysen beim Watchblog. Ich, Martin, muss nach sechs Jahren Solopreneur-Dasein dringend mal aus dem wöchentlichen News-Karussell aussteigen, um meine Batterien aufzuladen und den Blick zu weiten.

Nun ist es aber so, dass wir Mitgliedschaften verkaufen. Monats- und Jahresabos. Du bist eine/r der fantastischen Menschen, die unsere Arbeit derart wertschätzt, dass du uns dafür bezahlst. Entweder direkt via Steady oder aber über ein Firmenabo. Das ist klasse! Und ein großes Privileg. Gleichzeitig stellt uns das vor die besondere Herausforderung, dass wir eigentlich nicht einfach mal ein paar Wochen von unserer wöchentlichen Arbeit zurücktreten können. Eigentlich…

Nachdem wir vor gut zwei Wochen ca. 1000 zahlende Mitglieder angeschrieben und nach einem Stimmungsbild in dieser Angelegenheit gefragt haben, wurden wir mit positiven Rückmeldungen nur so überschüttet. Nie hätte ich gedacht, dass sich so viele von euch zurückmelden. Mehr als dreihundert Leserïnnen haben uns ausführlich geschrieben und ermutigt, uns etwas mehr Zeit zu nehmen als die üblichen zwei Wochen Sommerpause, um uns dem Thema KI zu widmen und Energie zu tanken. Ich möchte mich für dieses herzliche Feedback ganz ausdrücklich bedanken!

Wir haben uns daher für folgenden Plan entschieden:

  1. Simon widmet sich in den kommenden drei Monaten komplett dem Thema KI.
  2. Ich schreibe im Juni das Briefing allein. Allerdings wird es dann nicht in jeder Ausgabe News + Analysen geben — das ist einfach nicht zu leisten.
  3. Im Juli und August setzen wir die übliche Berichterstattung aus, verschicken dafür aber gehaltvolle Gastartikel von Menschen aus dem Watchblog-Universum. Quasi eine Art Newsletter-Take-Over durch verschiedene Kollegïnnen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen. Das wird ganz fein!
  4. Im September verschicken wir dann zum Start in die neue Saison in der ersten Woche ein, zwei große Recaps mit den News, die in den Wochen zuvor liegengeblieben sind. Hoffentlich nicht all zu viel (Hashtag: Sommerloch).
  5. Zudem veranstalten wir im September ein (digitales) Meet-up.
  6. Last but not least sammeln wir weiter wie gewohnt im Slack-Channel #newsfeed alle Artikel, Studien, Paper und Videos, die uns bei unserer Recherche begegnen. Falls du noch keinen Zugang zu unserem Slack-Channel hast, melde dich gern bei mir!

Sollte dieser Sommerfahrplan für dich nicht funktionieren, dann melde dich bitte bei uns. Gern direkt per Reply auf diese Ausgabe oder auch ansonsten jederzeit per E-Mail oder DM bei Slack. Wir sind immer ansprechbar und finden garantiert eine Lösung.

Seit mehr als sechs Jahren verschicken wir nun Woche um Woche hauptberuflich unsere Briefings. Seit über zehn Jahren gibt es unseren wöchentlichen Newsletter insgesamt. Da temporär auszusteigen, beschäftigt mich sehr — von großer Vorfreude auf eine nachrichtenfreie Zeit bis zu üblen Bauchschmerzen aufgrund von Ungewissheit, was aus den Abos wird, ist alles dabei.

Es fühlt sich zudem auch komisch an, so „öffentlich“ zu bekunden, mal eine Auszeit von der Creator Economy zu brauchen. Aber das Feedback von euch hat mir auch gezeigt, dass es durchaus ermutigend sein kann, wenn nicht immer „alle nur so tun“, als würden sie jederzeit die krassen Überperformer sein. (Was ich natürlich auf jeden Fall bin. LOL.)

Nun ja, soweit erst einmal. Wir lesen uns ja direkt am Dienstag wieder — mit sämtlichen News, die heute aufgrund dieser besondere Zeilen nicht ins Briefing passten.

Herzlichen Dank!