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7 Min. Lesezeit US-Wahl

US-Wahl: Willkommen im Zeitalter der fragmentierten Öffentlichkeit

Im Wahlkampf 2016 gab es Fox News, Facebook und die Times. Acht Jahre später bespielen Zehntausende Creator Dutzende Plattformen – mit unabsehbaren Folgen.

US-Wahl: Willkommen im Zeitalter der fragmentierten Öffentlichkeit
Quelle: Unsplash+ / Sanja Djordjevic

Was ist

Heute Morgen haben wir telefoniert und länger überlegt, was wir am Tag vor der US-Wahl schreiben können. Die große Herausforderung: Es gibt nicht mehr das eine Thema oder die eine Plattform, die entscheidende Rollen im Wahlkampf gespielt haben – es gibt Dutzende.

Deshalb kommt es uns wenig hilfreich vor, noch einmal im Detail nachzuerzählen:

All das ist wichtig – aber es ist nur ein kleiner Ausschnitt der sozialmedial vermittelten Realität.

Also haben wir entschieden, genau diese Zersplitterung zum Thema unseres Briefings zu machen. Die Beobachtung an sich ist nicht neu. Seit Jahren beschreiben wir und viele andere, wie Kommunikation und Informationsaufnahme im Netz fragmentieren. Doch der aktuelle US-Wahlkampf hat deutlicher denn je gezeigt, welche Wucht diese Entwicklung hat und welche Konsequenzen sie nach sich zieht.

Warum Öffentlichkeit nur noch im Plural existiert

Vor mehr als 100 Jahren stellte der deutsche Journalist Wolfgang Riepl eine Hypothese auf, die als das Rieplsche Gesetz bekannt wurde. Sie besagt, dass kein neues Medium ein vorhandenes vollständig verdrängt, sondern nur ergänzt. In dieser Absolutheit ist die Aussage falsch, bestimmte Formen der Informationsvermittlung sind sehr wohl komplett verschwunden.

Mit Blick auf das 21. Jahrhundert ist Riepls Beobachtung aber spannend. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind mehr neue Kommunikationskanäle und Plattformen entstanden als in den zwei Jahrhunderten davor. Verlage und Sender haben ihre Printprodukte und linearen Angebote digitalisiert, entbündelt und dauerhaft abrufbar gemacht.

Für ein paar Jahre galten Blogs als das nächste große Ding. Dann wollte Facebook die Welt in ein globales digitales Dorf verwandeln, bevor Instagram, Snapchat und TikTok die Plattformwelt fragmentierten. Bislang hat keiner der neuen Verbreitungswege einen der alten ersetzt. Die Auflage gedruckter Zeitungen schrumpft, das lineare Fernsehen verliert an Bedeutung – aber klassische Medien existieren parallel zu digitalen und sozialen.

Dabei ist Social Media nicht einfach nur eine weitere Möglichkeit, Informationen aufzunehmen und sich eine Meinung zu bilden. Jede Plattform ist ein Universum für sich. Früher sahen Menschen die Tagesschau oder lasen den Spiegel – und bekamen dabei dieselben Fakten und Kommentare präsentiert.

Im Gegensatz dazu bietet jede Plattform ein hyperpersonalisiertes Content-Bouquet, Milliarden Menschen sehen Milliarden unterschiedliche Feeds. Man informiert sich eben nicht "auf TikTok", sondern bei einer ganz bestimmten Auswahl an Influencerinnen, Medien und Creators. Je nachdem, welche Inhalte die Algorithmen auswählen, verändert sich der eigene Blick auf die Welt. Gerade erst haben Washington Post und Zeit Online mit datengetriebenen Recherchen eindrücklich gezeigt, wie stark sich TikTok-Feeds in Abhängigkeit von Gender und politischer Überzeugung unterscheiden.

Es wäre voreilig, daraus kausale Schlüsse zu ziehen. Ob und wie die Nutzung sozialer Medien die eigene Meinung oder gar das Wahlverhalten beeinflusst, ist unklar. Zumindest mit Blick auf Desinformation zeigt die Forschung, dass solche Effekte tendenziell überschätzt werden (SMWB).

Dennoch kann man festhalten: Es gibt in den USA immer weniger Menschen, deren Medienmenü sich ähnelt. Wer Times liest und CNN schaut, nimmt vergleichbare Ausschnitte der Realität wahr, die Redaktionen nach journalistischen Kriterien geprüft und ausgewählt haben. Das ist längst eine Minderheit, die Bedeutung klassischer Medien nimmt ab (Übermedien) – auch durch eigenes Verschulden (Journalist). Wolfgang Riepl hätte seine helle Freude an dem medialen Durcheinander des Jahres 2024 gehabt: Es gibt Print und Podcasts, Times und Twitch, Indie-Medien und Influencer.

An dieser Stelle kommt ein zweiter bekannter Kommunikationstheoretiker ins Spiel: Marshall McLuhan und sein Slogan "Das Medium ist die Botschaft". Genau wie bei Riepl ist diese Aussage zu absolut, trifft aber leicht abgewandelt nach wie vor zu: "Das Medium ist ein Teil der Botschaft".

2024 gibt es Hunderte verschiedene Informationskanäle. Das beeinflusst die Botschaft, die beim Publikum ankommt. Je nachdem, mit welchen Medien und auf welchen Plattformen man Zeit verbringt, wem man folgt und wie man dort interagiert, verändern sich Themen und deren Einordnung.

Warum die Fragmentierung bedrohlich ist

Wir möchten nicht zu Kulturpessimisten werden und der guten alten Zeit hinterher trauern. Zum einen ändert das nichts, zum anderen war früher ganz sicher nicht alles besser. Vielleicht ist es auch ganz gut, dass es weniger Gatekeeper und mehr Vielfalt gibt.

Trotzdem beunruhigt uns die Fragmentierung, die wir wahrnehmen. Das hat mehrere Gründe:

  1. Im Idealfall arbeiten Creator, Influencerinnen und Podcaster genauso akribisch wie seriöse Journalistïnnen. Leider ist das nicht immer der Fall. Natürlich lassen auch viele Medien journalistische Standards vermissen, doch auf Instagram oder TikTok mangelt es besonders oft an Fakten und Recherche.
  2. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil Newsfluencer bei jüngeren Nutzerïnnen als glaubwürdig gelten. Sie vertrauen eher Personen als Medienmarken. Je nachdem, wem man folgt, kann das gründlich schiefgehen.
  3. Genau wie viele Creator haben auch die großen Plattformen wenig mit journalistischer Verantwortung am Hut. Sie wollen Geld verdienen und möglichst wenig Ärger haben. In einer zutiefst polarisierten Gesellschaft wie den USA entsteht dadurch eine gefährliche Dynamik, in der Moderation auf ein Minimum zurückgefahren wird (Bloomberg).
  4. Für die Existenz von algorithmischen "Filterblasen" gibt es wenig Evidenz. Klar ist aber, dass es soziale Medien Menschen extrem leicht machen, ihren Informationskonsum so zu steuern, dass sie in ihrem Weltbild bestätigt werden – teils mit passenden Fakten, teils mit Fehlinformationen. Auch hier gilt: Meta und TikTok haben nicht vollständig im Griff, was auf ihren Plattformen geschieht.

In der Summe zersplittert dadurch nicht nur das Konzept von Öffentlichkeit, sondern auch ein Grundkonsens, der wichtig für jede Demokratie ist: eine zumindest in Teilen überlappende Wahrnehmung von Fakten und Realität. Die medial vermittelten Informationshäppchen sind derart selektiv, dass sich manche Menschen nicht mal mehr auf die banalsten Dinge einigen können.

Das bereitet den Nährboden für Lügen, Gerüchte und Verschwörungserzählungen. Mit tatkräftiger Unterstützung von Superspreadern wie Elon Musk verbreiten sich kurz vor der Wahl Falschbehauptungen (NYT), Faktenchecker sind weitgehend hilflos (Newsguard). Auf Telegram formieren sich rechtsradikale Gruppen und rufen zu bewaffnetem Widerstand gegen die vermeintlich manipulierte Wahl auf (Bloomberg). Das weckt unschöne Erinnerungen an den Januar 2021.

Be smart

Wir hoffen inständig, dass wir am Donnerstag nicht darüber schreiben müssen, wie digitale Gewaltaufrufe zu analogen Ausschreitungen geführt haben (NYT). Trotz aller berechtigten Warnungen sollte man nicht vergessen, dass auch 2020 das Schlimmste befürchtet wurde. Zumindest in den Tagen nach der Wahl blieb es vergleichsweise ruhig (NYT):

So far, it appears those efforts have averted the worst. Despite the frantic (and utterly predictable) attempts from President Trump and his allies to undermine the legitimacy of the vote in the states where he is losing, there have been no major foreign interference campaigns unearthed this week, and Election Day itself was relatively quiet.

Zur Wahrheit gehört aber auch:

But the platforms’ worst fears haven’t yet materialized. That’s a good thing, and a credit to the employees of those companies who have been busy enforcing their rules.

Dieses Jahr gibt es nicht nur weniger dieser Angestellten, sondern auch weniger Willen, sich der Desinformation entgegenzustellen. Deshalb senden wir zwar keine "thoughts and prayers", aber zumindest vier fest gedrückte Daumen.


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Es ist wieder einmal Zeit für Quartalszahlen. Auch wenn wir kein Finanzblog sind, so interessiert uns doch sehr, wie sich die Geschäftszahlen der Plattformen entwickeln. Hier einige Insights:

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