Was ist
Eine Woche vor der US-Wahl ist das Schreckensszenario in greifbare Nähe gerückt: Ein rassistischer und korrupter Straftäter mit faschistischen Tendenzen könnte US-Präsident werden. Jetzt versuchen die Reichen und Mächtigen im Silicon Valley, sich und ihre Unternehmen abzusichern. Sie umgarnen Donald Trump, weil sie sich davon Vorteile erhoffen.
Den offensichtlichsten und verwerflichsten Kniefall leistete sich Jeff Bezos. Als der Amazon-Gründer vor elf Jahren die Washington Post für 250 Millionen Dollar kaufte, beteuerte er, dass er sich niemals in redaktionelle Entscheidungen einmischen werde. Das war ein leeres Versprechen. Bezos verhinderte höchstpersönlich, dass die Post eine Wahlempfehlung für Kamala Harris veröffentlichte.
Wir erklären, warum wir die Entscheidung für feige und opportunistisch halten – und warum Bezos damit leider nicht allein ist.
Wie Bezos das Endorsement verhinderte
- Am vergangenen Freitag veröffentlichte die Post eine Ankündigung des Herausgebers William Lewis, die große Wellen schlagen sollte:
The Washington Post will not be making an endorsement of a presidential candidate in this election. Nor in any future presidential election. We are returning to our roots of not endorsing presidential candidates.
- Nach diesem Absatz folgt eine wenig überzeugende Erklärung, warum Lewis das für angemessen hält. Schnell wurde klar, dass er nicht derjenige war, der die Entscheidung getroffen hatte. Lewis fügte sich nur dem Willen des Eigentümers Bezos.
- Zumindest eines muss man der Post zugutehalten: Sie betreibt hervorragende Berichterstattung in eigener Sache. Und so schreibt sie auch selbst klipp und klar:
An endorsement of Harris had been drafted by Post editorial page staffers but had yet to be published, according to two people (…). The decision to no longer publish presidential endorsements was made by The Post’s owner, Amazon founder Jeff Bezos, according to four people who were briefed on the decision.
- Die Meinungsredaktion der Post hatte bereits eine Wahlempfehlung für Harris geschrieben, als Bezos die Veröffentlichung verhinderte. Die New York Times hat weitere Details des Ablaufs rekonstruiert.
- Je mehr Details bekannt wurden, desto größer wurde die Empörung. Am Montag versuchte Bezos höchstpersönlich, die Entscheidung mit einem Op-ed zu rechtfertigen.
Warum Bezos der Post schadet
Bezos kann schreiben. Als er vor fünf Jahren von einem Klatschblatt erpresst wurde, drehte er den Spieß um und ging selbst mit dem Gegenstand der Erpressung an die Öffentlichkeit. Sein Medium-Post "No thank you, Mr. Pecker" ist bis heute ein gutes Anschauungsbeispiel für klare, direkte und überzeugende Kommunikation.
Auch Bezos' Op-ed ist überzeugend – allerdings nur sprachlich und strukturell, nicht inhaltlich. Ausgehend von der (zutreffenden) Beobachtung, dass Medien in den USA ein massives Vertrauensproblem haben, schlussfolgert er, dass die Tradition der Wahlempfehlungen abgeschafft werden sollte. Diese einseitige Parteinahme verstärke die Spaltung, bringe einen Teil der Gesellschaft gegen die Medien auf und erzeuge den Eindruck mangelnder Unabhängigkeit.
Ein Teil dieser Argumentation trifft zu. Vermutlich haben die Wahlempfehlungen, die Times und Post seit vielen Jahrzehnten aussprechen, kaum Einfluss auf die Wahlentscheidung der ohnehin überwiegend linksliberalen Abonnentïnnen. Gleichzeitig stoßen die Endorsements Republikaner vor den Kopf, der Schaden könnte größer sein als der Nutzen.
Aus deutscher Sicht mutet die Tradition der Endorsements ohnehin eher seltsam an. Zum Teil lässt sich das mit der redaktionellen Struktur in den USA erklären, wo anders als bei deutschen Medien strikt zwischen Meinung (Editorial Board) und dem Rest der Redaktion getrennt wird. Wir können aber gut nachvollziehen, warum man diese Wahlempfehlungen kritisch sieht oder abschaffen möchte.
Trotzdem halten wir Bezos' Einmischung aus drei Gründen für schädlich bis skandalös:
- Warum zwölf Tage vor der Wahl? Bezos hätte die Entscheidung vor zwei Jahren verkünden können. Damals stand nicht fest, wer kandidieren würde – und es war nicht klar, wie eng das Rennen werden sollte. So kurz vor dem 5. November kann Bezos noch so oft beteuern, dass es ihm nicht darum gehe, sich mit Trump gut zu stellen – es wirkt verdammt unglaubwürdig.
- Bezos widerspricht sich selbst. Als Begründung für seine Einmischung führt er ausgerechnet Glaubwürdigkeit an:
We must be accurate, and we must be believed to be accurate. It’s a bitter pill to swallow, but we are failing on the second requirement. (…) We must work harder to control what we can control to increase our credibility.
Und er denkt ernsthaft, dass es dem Ansehen einer Zeitung nutzt, wenn ein Multimilliardär der Redaktion seinen Willen aufnötigt? Selbst überzeugte Trump-Fans (in deren Augen die Post ohnehin "Fake News" ist) werden das für lachhaft halten.
Amazon verkauft der US-Regierung Cloud-Dienstleistungen im Wert von zehn Milliarden Dollar (Amazon AWS). Auch Blue Origin, das von Bezos gegründete Raumfahrtunternehmen, erhält Milliarden von der Nasa (Nasa.gov). Da kann Bezos noch so oft beteuern, dass es nicht um Taktik oder mögliche Gegenleistungen gegangen sei.
Wenn Bezos sich wirklich um die öffentliche Wahrnehmung der Post sorgt, dann war seine Einflussnahme außerordentlich dumm. Wir halten Bezos nicht für dumm, sondern für extrem smart und strategisch – und seine Begründung für vorgeschoben.
- Trump ist kein normaler Präsidentschaftsbewerber. Bezos und Herausgeber Lewis rechtfertigen die Entscheidung beide mit der Geschichte der Post, die vor 1976 auch keine Wahlempfehlungen aussprach. Diese Haltung habe gute journalistische Tradition. Doch Lewis schreibt selbst (Hervorhebung von uns):
That was strong reasoning, but in 1976 for understandable reasons at the time, we changed this long-standing policy and endorsed Jimmy Carter as president. But we had it right before that, and this is what we are going back to.
Damals trat Carter gegen den Republikaner Gerald Ford an, den Nachfolger von Richard Nixon. Dieser war als einziger US-Präsident in der Geschichte zurückgetreten, weil die Post seine Verwicklung in die Watergate-Affäre aufgedeckt hatte.
Bei allem, was man Nixon vorwerfen kann: Trump ist schlimmer. Viel schlimmer. Ausgerechnet das Editorial Board der Post beschrieb kurz vor der Wahl 2020 in aller Deutlichkeit, welche katastrophalen Konsequenzen eine zweite Amtsperiode von Trump für die Demokratie in den USA haben könnte:
A second term might injure the experiment beyond recovery. And so, over the coming weeks, we will do something else we have never done before: We will publish a series of editorials on the damage this president has caused — and the danger he would pose in a second term. And we will unabashedly urge you to do your civic duty and vote: Vote early and vote safely, but vote.
Seitdem sind Trumps Äußerungen nur noch radikaler und rassistischer geworden. Die Times brachte es kürzlich auf den Punkt:
Donald Trump has described at length the dangerous and disturbing actions he says he will take if he wins the presidency.
His rallies offer a steady stream of such promises and threats — things like prosecuting political opponents and using the military against U.S. citizens. These statements are so outrageous and outlandish, so openly in conflict with the norms and values of American democracy that many find them hard to regard as anything but empty bluster.
We have two words for American voters: Believe him.
Trump hat in seiner ersten Amtsperiode Zehntausende Mal gelogen, aber es gibt keinen Grund, seine Drohungen nicht ernst zu nehmen. Hier kandidiert ein faschistoider Autokrat, der die Demokratie abschaffen möchte. Ausgerechnet bei dieser Wahl zum ersten Mal seit rund 50 Jahren keine Empfehlung auszusprechen und das vage mit journalistischer Glaubwürdigkeit zu begründen, ist feiger Opportunismus.
Wie sich die Einmischung rächt
- 200.000. Das ist die Zahl der Abonnentïnnen, die zwischen Freitag und Montag ihre Digitalabos der Post kündigten (NPR). Das entspricht etwa acht Prozent der 2,5 Millionen Abonnements.
- Zur Einordnung: Von Januar bis Anfang Oktober gewann die Post rund 4000 zahlende Leserïnnen hinzu. An einem Wochenende kündigten rund 50 Mal so viele.
- Bezos' Op-ed dürfte kaum dazu beitragen, dass diese beispiellose Protestwelle abebbt. Im Gegenteil. Blogs und Plattformen wie Instagram und Threads sind voll mit Kündigungsaufrufen, mehrere Redakteurïnnen traten zurück.
- Der frühere Chefredakteur der Post, Marty Baron, kritisiert sein eigenes Blatt auf X aufs Schärfste:
This is cowardice, with democracy as its casualty. @realdonaldtrump will see this as an invitation to further intimidate owner @jeffbezos (and others). Disturbing spinelessness at an institution famed for courage.
- Auch Bob Woodward und Carl Bernstein, die als Post-Reporter den Watergate-Skandal aufdeckten, machen unmissverständlich klar, was sie von der Entscheidung halten:
We respect the traditional independence of the editorial page, but this decision 12 days out from the 2024 presidential election ignores the Washington Post’s own overwhelming reportorial evidence on the threat Donald Trump poses to democracy. Under Jeff Bezos’s ownership, the Washington Post’s news operation has used its abundant resources to rigorously investigate the danger and damage a second Trump presidency could cause to the future of American democracy and that makes this decision even more surprising and disappointing, especially this late in the electoral process.
Wer sonst noch auf Kuschelkurs zu Trump geht
- Bezos ist der prominenteste, aber nicht der erste Eigentümer einer großen US-Zeitung, der eine Wahlempfehlung für Harris verhindert.
- Mit einer ähnlich schwachen Begründung mischte sich Patrick Soon-Shiong in die redaktionelle Entscheidung seine LA Times ein und stoppte die Veröffentlichung eines Endorsments (LA Times). Aus Protest traten drei Mitglieder des Editorial Boards zurück, darunter ein Gewinner des Pulitzer-Preises.
- In den vergangenen Wochen sollen mit Tim Cook (Apple), Andy Jassy (Amazon), Sundar Pichai (Google) und Mark Zuckerberg (Meta) die Chefs einiger der größten Tech-Konzerne mit Trump telefoniert haben (Wired). (Über Elon Musk haben wir vergangene Woche alles gesagt, das muss reichen.)
- Wirtschaftlich ist das verständlich und vermutlich klug. Trump trifft seine Entscheidung oft auf Grundlage persönlichen Sympathien. Natürlich versuchen CEOs, sich jetzt gut mit ihm zu stellen, um nach der Wahl nicht reguliert oder zerschlagen zu werden.
- Wer sich öffentlich für Harris ausspricht, hat nichts zu gewinnen. Sie wird ihre Entscheidungen nicht davon abhängig machen. Das Risiko ist aber groß, dass ein Präsident Trump sich später rächt.
- Man muss den genannten Managern nicht unterstellen, dass sie sich einen US-Präsidenten Trump wünschen. Auf Grundlage ihrer früheren Äußerungen und teils auch Konflikte mit Trump erscheint das eher unwahrscheinlich. Sie wollen sich einfach nur alle Optionen offen halten.
- Zumindest moralisch kann man diese Haltung aber kritisieren. Am 5. November steht mehr auf dem Spiel als die Frage, ob Billionenkonzerne künftig ein paar Milliarden mehr oder weniger verdienen.
Be smart
Bezos hat der Post massiv geschadet. Doch auch ohne die Einflussnahme eines übergriffigen Milliardärs müssen die meisten großen US-Zeitungen um ihre Glaubwürdigkeit und ihren Einfluss kämpfen. Creator, Podcasts und Plattformen wie TikTok haben klassische Medien in bestimmten Ziel- und Altersgruppen den Rang abgelaufen.
Das ist keine neue Entwicklung. Der Wahlkampf verdeutlicht aber, wie stark die mediale Öffentlichkeit zersplittert ist. Wenn jemand eine Agenda setzen kann, dann sind das nicht die etablierten Institutionen, sondern Leute wie Joe Rogan, dessen Podcast Dutzende Millionen Menschen hören.
Bei Axios beschreiben Jim VandeHei und Mike Allen, wie Trump und Harris ihre Wahlkampfauftritte an die neue mediale Realität anpassen. Statt bei Fox News, CNN oder MSNBC treten sie in Podcasts auf, sprechen mit Comedians und versuchen, über YouTube-, Instagram- und TikTok-Creator junge Menschen zu erreichen.
Der Wahlausgang könnte diese Entwicklung verlangsamen oder weiter beschleunigen:
The winner of the election might speed or slightly slow this lightning-fast transition. If Harris wins, she and her staff are much closer — and responsive — to traditional media. If Trump wins, the shift will accelerate.
Just imagine, if Trump wins, the power of Elon Musk after he bought Twitter, and turned it into X — and then went all-in to elect Trump. The X-Rogan-right-wing podcaster network would form a new mass media industrial complex.
Next (AR, VR, KI, Metaverse)
- Meta schließt KI-Deal mit Reuters ab: Um Nutzerïnnen des hauseigenen KI-Chatbots mit Echtzeit-Antworten zu aktuellen Nachrichten zu versorgen, kooperiert Meta fortan mit Reuters. Während Nachrichten Stück für Stück aus den Feeds von Facebook, Instagram und Threads verschwinden, sollen sie beim Chatbot demnach sehr wohl eine Rolle spielen. (Axios)
- Meta arbeitet zudem an einer KI-Suchmaschine, die das Internet nach aktuellen Nachrichten durchforstet. Das Ziel: Weniger Abhängigkeit von Google und Bing, die aktuell als Zulieferer für Metas KI-Chatbot dienen. (The Information)
- Medium ist voller KI-Müll: Das Blog-Portal Medium sieht sich selbst gern als „home for human writing“. Doch eine aktuelle Analyse von WIRED zeigt, dass der Slogan nicht mehr trägt: Bei gut 47 Prozent der von WIRED untersuchten Artikel handelte es sich um KI-generierten Müll. Yikes.
- Apple Intelligence ist da — überzeugt bislang aber nicht wirklich. „Mostly underwhelming“ ist jedenfalls kein Fazit, das wir nach einer Produkteinführung gern lesen würde. (The Verge)
Schon einmal im Briefing davon gehört
- LinkedIn zählt 6,8 Millionen monatlich aktive Nutzerïnnen in Deutschland — wobei aktiv erst einmal nur bedeutet, dass sie sich in ihren Account eingeloggt haben. Wie viel sie dann gepostet oder gelesen haben, wird dadurch nicht ersichtlich. Seit der Übernahme durch Microsoft 2016 verhält sich das Karrierenetzwerk hier sowieso recht bedeckt. Die Zahl zu den „aktiven“ Usern wird nur im Rahmen der halbjährlichen DSA-Reports veröffentlicht. (LinkedIn)
- Spannend: Für die 6,8 Millionen deutschen Userïnnen hält LinkedIn gerade einmal 22 Content-Moderatoren vor (LinkedIn). TikTok zählt 22 Millionen Nutzerïnnen in Deutschland und spricht von 597 Personen, die sich im deutschsprachigen Raum dem Thema Content Moderation widmen (TikTok). Das macht bei LinkedIn einen Moderator pro 163.636 User. Bei TikTok ist das Verhältnis 1:36851. Beides eigentlich unglaublich. Aber KI scheint da bereits den absoluten Löwenanteil abzuräumen. Right?!
- Wie man mit ein paar simplen Recherche-Kniffen bei LinkedIn selbst aus dubiosen Branchen gezielt Personen aufspüren kann, zeigt Kollege Sebastian Meineck in seinem lesenswerten Online-Recherche-Newsletter bei Substack.
- Bluesky zählt 13 Millionen Userïnnen und freut sich über eine neue Finanzierungsrunde. Mit dem frischen Geld, gut 15 Millionen Dollar, soll vor allem das Thema „Tust and Safety“ angegangen werden. Zudem plant das Unternehmen ein Abo-Modell, über das sich die eigene Profilseite individualisieren lassen soll, bzw. Videos mit besserer Qualität hochgeladen werden können. Ein „pay for view“-Modell wie bei X solle es aber nicht geben. (TechCrunch, Bluesky)
- Das Fediverse bekommt sein eigenes TikTok: Jedenfalls ist das die Idee, mit der Loops an den Start geht. Nun ja. Warten wir mal ab. Bislang gibt es nicht viel mehr als eine Landingpage und einen Artikel bei TechCrunch.
- Smashing: Ein neuer Aggregator für Web-Inhalte: Goodreads ist dir vermutlich schon einmal begegnet. Die App bringt Leute zusammen, die sich für Bücher interessieren. Smashing verfolgt das gleiche Ziel: Nur soll es diesmal um Inhalte aus dem Netz gehen. Uns überkommen da gerade starke Artifact-Vibes… (TechCrunch)
Neue Features bei den Plattformen
- Instagram spielt Videos, die weniger erfolgreich sind, fortan mit geringerer Qualität aus, damit sie noch weniger erfolgreich sind?! (Threads / @lindseygamble)
Snapchat
- Die Snapchat-Kamera lässt sich fortan auch als Shortcut auf dem iPhone-Lockscreen hinterlegen. Win für Evan Spiegel. (TechCrunch)
Threads
- Threads testet Trending Topics in Japan. Bald dann auch in Germany?! (Threads / Mosseri)
- LinkedIn testet ein neues Design, bei dem die Navigation am oberen Bildschirmrand ist. Ein revolutionärer Einfall. (Threads / @oncescuradu)
Netflix
- Aus der Reihe „Alles kriegt irgendwie einen Social-Layer“: Netflix bietet Userïnnen ein neues Feature, mit dem sich besondere „Moments“ aus Filmen und Serien leichter teilen lassen. (Variety)
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