Salut und herzlich Willkommen zur 625. Ausgabe des Social Media Briefings. Heute beschäftigen wir uns mit Content-Moderation in Zeiten des Coronavirus. Zudem blicken wir auf den Zoom- und Livestream-Boom sowie die Digitalisierung der Politik. Wir wünschen eine gewinnbringende Lektüre und bedanken uns für das Vertrauen in unsere Arbeit – in diesen Zeiten ist das für uns natürlich doppelt wertvoll! Merci, Simon und Martin
Hinweis: Unsere Briefings sind eigentlich kostenpflichtig. Da wir unsere Recherchen zum Coronavirus aber nicht hinter einer Paywall „verstecken“ möchten, sind alle Analysen zum Thema Covid-19 frei zugänglich.
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Artikel zum Coronavirus:
- Warum die virale Infodemie tödlich ist (Briefing #623)
- Wie das Netz in der Krise helfen kann (Briefing #624)
- Covid-19 und Content-Moderation (Briefing #625)
- Grundrechtseingriffe gegen Covid-19 (Briefing #626)
- Deutschland will Covid-19 mit einer App eindämmen (Briefing #627)
- 5G ist gefährlich, aber nicht wegen der Strahlung (Briefing #629)
Covid-19: Jetzt müssen die Maschinen löschen
Was ist: Millionen Menchen müssen von zu Hause aus arbeiten. Für einige ist das kein großes Problem – dieses Briefing entsteht in Heimarbeit. Andere haben Jobs, die sich weniger leicht verlagern lassen. Das betrifft unter anderem Zehntausende Content-Moderatorïnnen, die für die großen Plattformen den Schmutz aus dem Netz fischen.
Warum das wichtig ist: Nur wenige Teams können im Home-Office arbeiten. Deshalb müssen die Plattformen einen Teil der Entscheidungen Maschinen überlassen. Bislang scannt Software zwar Inhalte, löscht aber nur wenige Inhalte selbst. Das finale Urtel fällt meist ein Mensch. Die Corona-Krise wird nun zum unfreiwilligen Test für die Algorithmen.
Was Content-Moderatorïnnen machen: Videos von Hinrichtungen, Darstellungen von Kindesmissbrauch, Morddrohungen und andere Inhalte, die gegen Gesetze oder die Richtlinien der Plattformen verstoßen – all das wird größtenteils von Menschen gesichtet und gelöscht. Die meisten von ihnen arbeiten bei Drittfirmen, verteilt über Dutzende Standorte in der ganzen Welt.
Allein bei Facebook und Instagram prüfen mehr als 15.000 Menschen an mehr als 20 Standorten Beiträge, auch bei Google und YouTube sind es Zehntausende. Insgesamt gibt es mehr als 100.000 Content-Moderatorïnnen, die im Auftrag großer und kleiner Plattformen die digitale Müllabfuhr übernehmen.
Die Arbeit ist belastend, einige erleiden Posttraumatische Belastungsstörungen oder werden die grausamen Fotos und Videos, die sie täglichen sehen müssen, nicht mehr los. Sie erhalten zwar psychologische Betreuung, werden aber vergleichsweise schlecht bezahlt und sind austauschbarer als festangestellte Mitarbeiterïnnen.
Warum die Arbeit ein Büro erfordert: Content-Moderatorïnnen sehen viele sensible, persönliche Daten von Nutzerïnnen. Außerdem haben sie Zugriff auf die exakten Moderationsregeln der Plattformen, von denen die Öffentlichkeit nicht erfahren soll.
Deshalb gilt in den meisten Büros eine Clean-Desk-Policy, die verhindern soll, dass Mitarbeiterïnnen Dokumente mit nach Hause nehmen. Diese Tätigkeit lässt sich nur eingeschränkt ins Home-Office verlegen.
Hinzu kommt die mentale Belastung. Vor Ort gibt es meist Ansprechpersonen, die traumatisierte Mitarbeiterïnnen unterstützen. Wenn sie mit ihrer Arbeit alleingelassen werden, kann das der psychischen Gesundheit schaden.
Wie die Plattformen reagieren: Facebook, Twitter, Google und YouTube habe in Blogposts angekündigt, fast alle Angestellten ins Home-Office zu schicken. Das gilt auch für Angestellte bei Partnerunternehmen. Nur ein kleiner Teil der Content-Moderatorïnnen kann zu Hause arbeiten. Teils springen Festangestellte ein, teils übernehmen Maschinen. Immerhin zahlen die Unternehmen zumindest vorerst das Gehalt weiter.
Alle genannten Plattformen und auch TikTok sagen entweder öffentlich oder im Hintergrund, dass in den kommenden Wochen und Monaten mehr Inhalte automatisiert gelöscht werden – und dass damit auch die Fehlerquote steigen wird.
Algorithmen haben bislang nur selbstständig Inhalte gelöscht, bei denen es wenig Interpretationsspielraum gab, etwa extremistische und terroristische Darstellungen. Nun müsen sie Entscheidungen treffen, die sie überfordern: Keine Software der Welt kann zuverlässig Satire erkennen, und bei Drohungen oder Beleidigungen sind sich selbst Menschen oft nicht einig, wo die Meinungsfreiheit enden sollte.
Die Unternehmen werden versuchen, sich auf besonders kritische Inhalte zu fokussieren, von denen potenziell Gefahr für andere Nutzerïnnen ausgeht. Alle anderen Inhalte landen in der Warteschleife und werden langsamer abmoderiert.
Be smart: Seit Jahren haben Content-Moderatorïnnen zwei Aufgaben: Sie prüfen und sperren Inhalte – und sie trainieren Maschinen. Langfristig arbeiten sie damit daran, ihren eigenen Job überflüssig zu machen. Bislang sind Algorithmen aber noch längst nicht in der Lage, genauso zuverlässig zu arbeiten wie Menschen.
Die Corona-Krise könnte zeigen, ob künstliche Intelligenz mehr ist als ein überstrapazierter Begriff, der meist fälschlicherweise als Synonym für maschinelles Lernen genutzt wird. Sind Maschinen wirklich schon so intelligent, um Teile eines wichtigen und verantwortungsvollen Jobs zu übernehmen?
Wenn der Ausnahmezustand länger anhält, wird das für Unternehmen und Nutzerïnnen eine große Herausforderung. Insgesamt dürfte das Risiko im Overblocking liegen: Lieber löschen die Plattformen zu viel als zu wenig. Eher soll ein legaler Beitrag verschwinden, als eine Morddrohung online bleiben.
Die aktuelle Situation trifft alle unvorbereitet. Selbst Milliardenkonzerne wie Google und Facebook waren nicht auf Covid-19 vorbereitet, und es gibt keine perfekten Lösungen. Zumindest für die Plattformen ist die Krise aber auch eine Chance: Sollten sich die Maschinen bewähren, muss sich ein Teil der Content-Moderatorïnnen wohl einen neuen Job suchen.
Zoom-Mania
Was ist: In Zeiten von Kontaktsperren und Social Distancing boomen Livestreaming- und Videochat-Plattformen. Vor allem Zoom erlebt einen regelrechten Boom. No pun intended.
Warum ist das interessant?
- Die kalifornische Video-Telefonie-App Zoom verzeichnete allein vergangene Woche Sonntag rekordverdächtige 600.000 Downloads.
- Tags drauf wurde Zoom die am häufigsten heruntergeladene Anwendung im Apple App Store
- Zooms Aktienkurs schießt nach oben – das Unternehmen wird derzeit mit 29 Milliarden Dollar bewertet.
- Was als Business-App startete, ist mittlerweile ein essentielles Werkzeug für Schulen, Universitäten, Künstler, Journalisten und – Achtung – ganz normale Menschen.
Warum ist Zoom so populär?
- Eigentlich gibt es ziemlich viele Video-Chat-Optionen: Techcrunch hat eine schöne Übersicht für unterschiedliche Bedürfnisse zusammengestellt.
- Zoom sticht aber derzeit heraus.
- Das könnte einerseits daran liegen, dass die App ziemlich easy zu benutzen ist. Friction ist immer ein Thema!
- Zudem ist Zoom recht großzügig: Bis zu 100 Leute können sich 40 Minuten lang kostenfrei unterhalten – viel mehr als bei Mitbewerbern.
- Theoretisch könnten alle Teilnehmer nach 40 Minuten einen neuen Call starten und es würden nie Kosten anfallen.
- Praktisch läuft das natürlich anders: Unternehmen können für eine monatliche Gebühr, die Beschränkungen aufheben.
- Zoom ist auch deshalb so populär, weil es keinen Account braucht, um an einem Call teilzunehmen. Again: Friction!
- Zoom ist gerade bei der jüngeren Generation in den USA so populär, weil das Tool bereits von vielen in der Uni / Schule genutzt wird – die private Nutzung scheint da nur logisch.
- Zudem machen gerade Menschen, die neben vielen weiteren wunderbaren Eigenschäften als Multiplikatoren gelten, kostenlos Werbung für Eric Yuans Firma: For artists, the show must go on—and Zoom is their venue (Fast Company)
Was sind die Herausforderungen?
- Zunächst einmal muss Zoom sich darum kümmer, dass der Service up and running ist. Bei so einem Ansturm gar nicht so leicht zu händeln.
- Zweitens muss Zoom sich zunehmend mehr um all die hässlichen Dinge kümmern, um die sich andere Plattformen auch kümmern müssen: allen voran Content Moderation. Immer häufiger werden über Zoom Dinge gestreamt, die nicht auf diese und auch auf keine andere Plattform gehören.
- Drittens muss Zoom innerhalb kürzester Zeit seinen neuen Nutzerïnnen erklären, wie die App funktioniert: die Tracking-Optionen mögen an manchen Stellen sinnvoll sein (Datenschutz Guru), das leuchtet aber nicht sofort ein.
- Viertens haben natürlich bereits auch Trolle die Plattform entdeckt und verabreden sich zu sogenannten Zoombombs (New York Times) – also dem Crashen von Video-Calls. Die Firma muss sich überlegen, ob die Screensharing-Funktion wirklich per Default angeschaltet sein sollte.
Was ist mit der Konkurrenz?
- Klar, Zoom ist bei weitem nicht das einzige Instrument, das derzeit genuzt und heiß diskutiert wird.
- Slack etwa hat sich aufgehübscht und ermöglicht ebenfalls Video-Calls.
- Skype ist schon immer ein Thema, kommt aber nicht so richtig aus dem Quark.
- Twitch ist ebenfalls spannend, insbesondere für Musiker: immer mehr DJs nutzen die Plattform (DJ Mag), um mit ihren Fans Kontakt aufzunehmen, Soundcloud hat einen Deal mit Twitch (The Verge), damit Artists auf Twitch leichter Geld verdienen können.
- Zoom aber scheint derzeit vor allem in der Breite an Popularität zuzulegen: Zoom hat Cloud (New York Times).
Be smart: Endlich wissen wir, wofür das Z in Generation Z steht: Zoom. Im Gegensatz zu ihren Feinden, den Boomern, definieren sich viele Kids dieser Tage als Zoomer. Merch (Amazon) und Meme-Gruppen (FB) inklusive. Unsere Einschätzung: Zoom ist gekommen, um zu bleiben. Als Business-App sowieso. Als Freizeit-App aber auch. Künftig gibt es sicherlich noch mehr Anwendungsszenarien. Dabei sind die bestehenden schon nicht ohne…
- Zoom Blind Dates
- Zoom Tarot-Lesungen
- Zoom Yoga
- Zoom Nähkurse
- Zoom Ganja-Sessions
- Zoom Bier-Pongturniere
Read on:
- Andere haben den Livestream-Trend natürlich auch längst erkannt und werben mit spanennden Live-Inhalten: Insta hier, TikTok im eigenen Blog. Das Verrückte daran: Es gibt sogar feste Zeiten / Sendeplätze für die Live-Shows – das ist ja fast wie, lasst uns überlegen, wie hießt das noch: Fernsehen! Ja, Fernsehen!! Verrückt.
Social Media & Politik
Coronavirus als Chance für die Politik: Der geschätzte Kollege Martin Fuchs sieht in der Coronakrise Chancen für die Politik, endlich digitaler zu werden. In einem Twittter-Thread sammelt Martin Ideen, wie Behörden, Parteien und Politiker soziale Medien in der Krise (und womöglich darüber hinaus) nutzen. Einige Beispiele:
- Behörden-Kommunikation via Threema und Telegram
- CDU-Stammtisch via Zoom
- Das Saarland nutzt Bots
- Mit Tobias Hans ist der erste deutsche Ministerpräsident jetzt auf TikTok
Kampf gegen Desinformation
Während wir uns in den vergangenen zwei Briefings monothematisch dem Coronavirus gewidmet haben, fließen diesmal Themen rund um Covid-19 in unsere regulären Kategorien mit ein – allen voran natürlich beim Kampf gegen Desinformation:
- FB Messenger bietet Behörden enge Partnerschaften an, um Tools zu entwickeln, mit denen Bürgerïnnen besser erreicht werden können.
- WhatsApp startet mit der WHO Gesundheitsbenachrichtigungen.
- WhatsApp bietet Nutzerïnnen zudem ein erprobtes Mittel, um sich über Dinge zu informieren, die ihnen geschickt wurden: eine Websuche. 🤔
- YouTube bietet auf der Homepage eine spezielle Section an, die mit veritablen Informationen zu Covid-19 aufwartet.
Social Media & Journalismus
Facebook: News Powerhouse: Viele Publisher in den USA erleben derzeit einen Traffic-Boom über Facebook (New York Times). Kein Wunder: Corona ist auch auf Facebook das bestimmende Thema. Und je mehr Menschen Zeit haben, Facebook zu nutzen, desto mehr teilen auch Covid-19-Artikel. Falls jemand mit uns teilen möchte, wie stark der Traffic via Facebook in den vergangenen Wochen gestiegen ist, immer her damit! Dann beleuchten wir das in einer der kommenden Ausgaben noch einmal genauer.
Twitter spendet eine Million Dollar, um Journalismus während der Coronakrise zu unterstützen (Techcrunch). Wie Craig Silverman bei BuzzFeed zeigt, ist das natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein: die wegbrechenden Werbeumsätze könnten die Branche nachhaltig verändern – womöglich sogar stärker als die Finanzkrise 2008: The Coronavirus Is A Media Extinction Event.
Follow the money
Weniger Werbeeinnahmen: Wo wir gerade beim Thema Geld sind: Protocol berichtet, dass Facebook ebenfalls mit geringeren Werbeeinnahmen rechnen muss. Mein Bauch sagt mir: Facebook wird das prima überstehen. Ja, vielleicht sogar als einer der Gewinner aus der Krise hervorgehen: Techlash war gestern (WIRED).
Neue Features bei den Plattformen
- Dark Mode & Desktop Redesign gibt es jetzt quasi für alle (Techcrunch)
- Nachrichten, die von selbst verschwinden: Instagram bastelt an Snaps Killer-Feature: selbstzerstörenden Chat-Nachrichten. (Techcrunch)
- Gruppen-Instagrammen: Weil Kids aktuell nicht auf dem Schulhof die Köpfe zusammenstecken können, um gemeinsam über Instagram-Posts zu lästern, bietet das Unternehmen nun Co-Watching (The Verge) an. Offiziell wird das als Feature gegen Corona-Falschnachrichten verkauft.
- Today Tab: Pinterest lanciert ein neues Feature, um zu bestimmten Themen einen besseren Überblick (Techcrunch) geben zu können: tägliche Empfehlungen und Trending Topics inklusive.
Snapchat
- #Wirbleibenzuhause – gamifiziert: Um Kids zu motivieren, zuhause zu bleiben, hat Snapchats Zenly ein Leaderboard (Techcrunch) eingeführt – Tracking vorausgesetzt.
- Umfragen: Bei Reddit lassen sich nun zu allem möglichen Umfragen (The Verge) posten. Why not.
One more thing
#maskeauf: Der geschätzte Kollege Christoph Koch hat uns auf die Aktion #maskeauf aufmerksam gemacht. Die Idee: „Wenn alle Menschen im öffentlichen Raum Atemschutzmasken tragen, kann die Ausbreitung von SARS-CoV-2 verlangsamt werden. Weil die medizinischen Masken in die Medizin gehören, basteln wir sie uns selbst. Damit schützen wir alle.“ Ok.
Header-Foto von Free To Use Sounds bei Unsplash