TikTok: Mehr Kontrolle, kein Personalisierungszwang und ein Betriebsrat
Was ist
Bei TikTok war in den vergangenen Tagen einiges los, das wir hier im Schnelldurchlauf abhandeln. Nutzerïnnen erhalten mehr Einfluss auf die Inhalte der For You Page (FYP), der geplante Zwang zur verhaltensbasierten Werbung kommt vorerst nicht, dafür wird in Deutschland ein Betriebsrat gewählt.
Filter, Abwechslung und Altersbeschränkungen
- Unter dem eher nichtssagenden Titel "Mehr Möglichkeiten für unsere Community, das zu erleben, was sie liebt" verkündet TikTok in seinem Newsroom einige durchaus spannende Neuerungen für den persönlichen Feed.
- Vor allem auf der FYP landen ständig virale Videos von Personen, denen man nicht folgt. Womöglich will man diese Inhalte aber gar nicht sehen, weil einen die Themen langweilen, sie unangenehme Erinnerungen triggern oder aus anderen Gründen unpassend sind.
- Bereits jetzt können Nutzerïnnen bestimmte inhaltliche Kategorien blockieren (TikTok-Newsroom) oder einzelne Videos mit "nicht interessiert" markieren.
- Künftig ist es auch möglich, Videos auf Grundlage von Wörtern oder Hashtags herauszufiltern. Das gilt sowohl für die FYP als auch für den Following-Feed. TikTok nennt ein paar harmlose Beispiele:
Egal, ob jemand gerade ein DIY-Projekt abgeschlossen hat und nun vielleicht lieber keine Heimwerkervideos mehr sehen möchte oder Nutzer*innen weniger Rezepte ansehen wollen, die Fleisch oder Milch zeigen, weil künftig eher pflanzliche Mahlzeiten auf dem Speiseplan stehen.
- Wir ergänzen: fragwürdige Challenges (Techdirt), Diäten, Fitnesskult, Magermodels oder psychische Krankheiten – also Inhalte, die in den meisten Fällen nicht verboten sind, bei vielen Menschen aber kein gutes Gefühl auslösen.
- Die Filterfunktion soll in den kommenden Wochen freigeschaltet werden. Falls sie zuverlässig funktioniert, könnte das ein hilfreiches und sinnvolles Tool sein.
- Der Blogeintrag enthält zwei weitere Ankündigungen. Zum einen möchte TikTok die Empfehlungen diversifizieren, damit der Feed nicht monothematisch wird. Besonders bei einigen der oben genannten Themen wird das schnell problematisch: Ein einzelnes Video über Depressionen oder Essstörungen ist okay, zehn am Stück eher nicht.
- Diese Technologie wurde bislang nur in den USA und auf Englisch getestet. Nun sollen weitere Länder und Sprachen folgen. Deutschland wird nicht erwähnt, aber da der Blogpost im deutschen Newsroom erschienen ist, gehen wir davon aus, dass auch der deutsche Markt gemeint ist.
- Zum anderen sollen Jugendliche besser vor Inhalten geschützt werden, die nicht für sie geeignet sind. TikTok spricht von einem "System, mit dem wir Inhalte nach thematischer Reife ordnen können" und zieht Vergleiche zur Filmindustrie, dem Fernsehen oder der Spielebranche.
- Dort sind allerdings Menschen für diese Kategorisierungen zuständig. Angesichts der Masse an Content auf TikTok müssen dort Maschinen ran. Bis zum Beweis des Gegenteils bleiben wir skeptisch, wie zuverlässig das funktionieren wird.
Rolle rückwärts bei personalisierter Werbung
- Am Mittwoch wollte TikTok neue Datenschutzbestimmungen für Europa einführen. In der Ankündigung aus dem Juni (TikTok-Newsroom) klang das wie folgt:
Derzeit müssen Nutzerïnnen im Europäischen Wirtschaftsraum, dem Vereinigten Königreich oder der Schweiz zustimmen, wenn sie personalisierte Werbung auf der Grundlage ihrer TikTok Aktivitäten erhalten möchten. Ab dem 13. Juli werden alle Nutzerïnnen über 18 Jahre personalisierte Werbung sehen, die wir dir ab diesem Datum anhand deiner Aktivitäten auf TikTok bereitstellen.
- Anders ausgedrückt: Es hätte keine Möglichkeit mehr gegeben, verhaltensbasierter Werbung zu entgehen. Man hätte nur noch widersprechen können, dass die Anzeigen zusätzlich auf Grundlage von Daten personalisiert werden, die außerhalb der TikTok-App gesammelt werden.
- Sechs Stunden vor dem Inkrafttreten überlegte es sich TikTok anders. Der Blogeintrag hat ein Update erhalten, das auf Dienstagabend 18 Uhr datiert ist:
Während wir uns mit den Fragen der Interessenvertreterïnnen zu unseren vorgeschlagenen Änderungen an der personalisierten Werbung in Europa auseinandersetzen, pausieren wir die Einführung dieses Teils unserer Aktualisierung der Datenschutzrichtlinie. Wir sind der Meinung, dass personalisierte Werbung das beste In-App-Erlebnis für unsere Community bietet und uns mit den Praktiken der Branche in Einklang bringt. Gerne tauschen wir uns mit Intressenvertreterïnnen aus und gehen auf ihre Bedenken ein.
- Wir übersetzen: TikTok befürchtet, dass die erzwungene Personalisierung gegen geltendes Datenschutzrecht in der EU verstößt. Dabei geht es um die Frage, ob TikTok ein "berechtigtes Interesse" daran hat, die personenbezogenen Daten ohne Zustimmung zu verarbeiten.
- Nun prüft die irische Datenschutzbehörde den Fall, in der Zwischenzeit "pausiert" TikTok die geplante Änderung.
TikTok Deutschland bekommt einen Betriebsrat
- Auf diese Meldung hätte TikTok, das Unternehmen, vermutlich gerne verzichtet: "Weg frei für Betriebsratswahlen", verkündet die Gewerkschaft ver.di.
- Am Montag beteiligten sich mehr als 100 Beschäftigte an der Wahl eines Wahlvorstands. Der soll sich in den kommenden Wochen darum kümmern, die Betriebsratswahl zu organisieren.
- Für die Mitarbeiterïnnen ist es ein wichtiger Erfolg. Sie kämpfen seit anderthalb Jahren darum, einen Betriebsrat zu gründen. Im März 2021 sollen Personalverantwortliche teils unter falschen Namen an einer digitalen Betriebsversammlung teilgenommen haben (Spiegel).
- Angestellte berichteten damals von einem "Klima der Angst". Heute klagen viele über niedrige Bezahlung bei hoher Arbeitsbelastung, das gelte insbesondere für die Abteilung Trust & Safety.
- Einer der drei neu gewählten Wahlvorstände beschreibt weitere Probleme bei TikTok:
Wir haben so gut wie keine weiblichen Führungskräfte, wir beobachten sexistischen Umgang mit Kolleginnen und der Leistungsdruck ist enorm. Hinzu kommt die mangelnde Freiheit der Mitarbeitenden und zum Teil wirklich toxische Arbeitsatmosphäre. Ich beobachte aber auch, dass ständige Kontrollen einzelner Arbeitsschritte und permanentes Micromanaging zu einem echten Problem werden. Es ist höchste Zeit, dass sich hier etwas verändert.
- Offiziell sagt TikTok, man unterstütze "das Recht der Arbeitnehmerïnnen, einen Betriebsrat zu bilden". Offiziell sagt TikTok aber auch, dass man vollkommen unabhängig von ByteDance sei, Privatsphäre und Datenschutz außerordentlich ernst nehme und alles dem Wohlergehen der Nutzerïnnen unterordne. Joa.
Twitter und Musk: eine Klage, eine Analyse, beide lesenswert
Was ist
Keine Sorge: Nachdem wir am Dienstag mehr als 15.000 Zeichen über Elon Musk geschrieben haben, fassen wir uns diesmal kurz. Wir möchten bloß auf zwei Veröffentlichungen hinweisen, die unserer Meinung nach deine Aufmerksamkeit verdienen: eine überraschend unterhaltsame Klageschrift und eine kluge Analyse.
Die Klage: Twitter zerrt Musk vor Gericht
- Was wir in Ausgabe #809 angekündigt hatten, ist eingetreten: Twitters Anwältïnnen haben Musk verklagt, um ihn zu zwingen, seine vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten. Die da wären: Twitter zu kaufen und den Rest der 44 Milliarden Dollar zu zahlen.
- Einerseits war der Vorgang absolut erwartbar. Andererseits handelt es sich um eine der unterhaltsamsten Klageschriften, die wir bislang gelesen haben. Das 62-seitige Dokument (PDF) steckt voller pikanter Details und Anekdoten, die das volle Ausmaß von Musks Trollerei offenbaren.
- Schon der dritte Satz gibt den Ton vor:
Having mounted a public spectacle to put Twitter in play, and having proposed and then signed a seller-friendly merger agreement, Musk apparently believes that he — unlike every other party subject to Delaware contract law — is free to change his mind, trash the company, disrupt its operations, destroy stockholder value, and walk away.
- Danach folgt eine ausführliche Chronologie, die teils bekannte Vorgänge enthält, teils aber auch Szenen hinter den Kulissen offenlegt.
- Grob zusammengefasst kann man sagen: Twitter hat alles getan, um Musks immer absurderen Wünsche zu erfüllen und ihm Zahlen zu präsentieren – er wollte aber lieber weiter über Spam-Bots schwadronieren, als sich mit harten Fakten zu beschäftigen.
- Mehrfach ließ er vereinbarte Treffen platzen und ignorierte detaillierte Erklärungen, die Twitter ihm schickte:
Musk exhibited little interest in understanding Twitter’s process for estimating spam accounts that went into the company’s disclosures. Indeed, in a June 30 conversation with Segal, Musk acknowledged he had not read the detailed summary of Twitter’s sampling process provided back in May. Once again, Segal offered to spend time with Musk and review the detailed summary of Twitter’s sampling process as the Twitter team had done with Musk’s advisors. That meeting never occurred despite multiple attempts by Twitter.
- Als einen der Gründe für seinen Ausstieg aus dem Kauf nennt Musk die Tatsache, dass Twitter in der Zwischenzeit hochrangige Angestellte verloren habe. Dabei wollte Twitter genau das verhindern – doch Musk verhinderte eine entsprechende Initiative:
Musk has unreasonably withheld consent to two employee retention programs designed to keep selected top talent during a period of intense uncertainty generated in large part by Musk’s erratic conduct and public disparagement of the company and its personnel.
- Twitter versucht, Musks eigene Äußerungen gegen ihn zu verwenden. Was ziemlich einfach ist, da Musk sie auf Twitter getätigt und bis heute nicht gelöscht hat.
- Insgesamt 13 Tweets finden sich als Screenshots in dem Dokument, darunter kryptische Andeutungen, unverhohlene Drohungen, Verstöße gegen die vereinbarte Schweigepflicht, persönliche Beleidigungen, höhnische Memes und – natürlich – das Kackhaufen-Emoji, mit dem Musk Twitter-Chef Parag Agrawal bedachte. Das dürfte selbst für die erfahrenen Richterïnnen ein Novum sein.
- Falls du noch tiefer einsteigen willst, gilt wie immer bei diesem Thema: Matt Levine lesen (Bloomberg).
Die Analyse: Warum Musk der ultimative Boomer ist
- Woher kommt Musks ungesunde, unverhältnismäßige Obsession für Spam-Bots? Warum spricht der Typ ständig darüber, auch schon vor seinem (vermutlich doch nicht) Twitter-Kauf?
- Charlie Warzel hat dafür eine einleuchtende Erklärung (Atlantic). Mit mehr als 100 Millionen Followern fühlt sich Twitter für Musk vollkommen anders an als für dich oder uns. Falls schon mal ein Tweet von dir viral gegangen ist, kannst du die folgenden Absätze wohl gut nachvollziehen:
If you’ve ever had a tweet go viral, you likely know that it is one of the worst experiences the platform offers. You become the dog that caught the car, and your replies are clogged with (mostly real) people you don’t know screaming and fighting about things that, after a while, have very little to do with you or your tweet. It’s very hard to separate the signal from the (again, mostly real and human) noise. This is every tweet and reply for Musk. It’s likely a nightmare experience, albeit an authentic one.
- Tatsächlich folgen Musk auch eine Menge Bots, das lässt sich bei einem derart großen Account nicht vermeiden. Und die sind verdammt aktiv, auf jeden seiner Tweets folgen binnen Sekunden Hunderte automatisierte Antworten und Interaktionen.
- In der Vergangenheit stand Musk mehrfach im Zentrum von Bot-Netzwerken, die seine Mentions überfluteten. Darunter waren bösartige, zielgerichtete Angriffe oder Krypto-Scam. Man kann also verstehen, warum Musk das Problem aus seiner persönlichen Perspektive für drängender hält, als es ein Großteil der Nutzerïnnen empfindet.
- Doch Musk hat in Bezug auf Bots mittlerweile einen Alarmismus entwickelt, die an der Grenze zur Verschwörungserzählung kratzt. Er wittert überall Botnetze, selbst wo keine sind. Wenn er heftigen Gegenwind erhält oder viele Reaktionen von Accounts ohne Profilfotos auslöst, vermutet er eine gezielte Kampagne dahinter.
- Warzel findet für dieses Verhalten eine anschauliche Charakterisierung. Musk sei ein typischer Facebook-Boomer:
As the unflattering stereotype goes, these people are aggressively online but generally not internet-savvy enough to understand why certain things are happening. They are addicted to fighting with other people on social media, and they share information uncritically or without verifying it. When they encounter pushback or see things in their feeds they cannot explain, they tend to lean on a conspiratorial excuse of shadowy information manipulators. They blame bots!
- Musk hängt ständig auf Twitter ab, klaut schamlos Memes (NYT), reißt die immer gleichen Weed-Jokes, fällt auf Desinformation herein und hält sich für jemand, der Netzkultur verstanden hat.
- Warzels Newsletter enthält so viele treffende Beobachtungen, dass wir ihn am liebsten ganz zitieren würden:
He is drawn to the conspiratorial nature of bots and information manipulation, because it is a more exciting and easier-to-understand solution to more complex or uncomfortable problems. Instead of facing the reality that many people dislike him as a result of his personality, behavior, politics, or shitty management style, he blames bots. Rather than try to understand the gnarly mechanics and hard-to-solve problems of democratized speech, he sorts them into overly simplified boxes like censorship and spam and then casts himself as the crusading hero who can fix it all.
- Okay, einer noch, der letzte Absatz:
The cult of personality that surrounds Musk sees him as a giant, pulsating brain, playing chess against 10 of his unwitting foes at once, always two steps ahead. But Musk isn’t playing chess or even checkers. He’s just the richest man in the world, bored, mad, and posting like your great-uncle.
Social Media & Journalismus
- Die 30 erfolgreichsten TikTok-Publisher aus Europa: Viele europäische Nachrichtenverlage haben sich mittlerweile eine erfolgreiche Präsenz auf TikTok aufgebaut. Das Portal The Fix erstellt seit gut einem Jahr regelmäßig eine Rangliste der größten europäischen Verlage auf der Plattform. In Deutschland befinden sich die Tagesschau, Sport1 News und Chip auf den ersten drei Plätzen. Hier gibt es den Artikel und die interaktive Liste.
Was wir am Wochenende lesen / hören
- Wait, What's a Community Manager? Rania Bolton, Community and Content Manager at Athena Club, breaks down the role of a Community Manager—which, BTW, is not the same thing as a Social Media Manager. (Substack / Link in Bio)
- Joscha Bach, wie lange gibst du der Menschheit noch? Mit dem Kognitionsforscher Joscha Bach zu sprechen, ist ein bisschen wie eine Sinfonie seines berühmten Vorfahren, Johann Sebastian Bach, zu hören. Man versteht nicht alles, aber man genießt, lernt und wächst an dem, was die eigenen Ohren mitbekommen. (Spotify / Wunderbar Together)
- The metaverse and the future of creativity—what it means for creators: Going digital, moving from 2D to 3D, and total freedom for creatives are just some of the benefits (Fast Company)
- WeChat Is China’s Most Beloved (and Feared) Surveillance Tool: This one app became so powerful that it could have posed a real threat to Beijing’s rule, the new book Influence Empire reveals. (Bloomberg)
Neue Features bei den Plattformen
- Custom Timelines: Twitter werkelt weiter an der Option, individuelle Timelines anbieten zu können. In den kommenden zehn Wochen können ausgewählte Nutzerïnnen einen Feed nutzen, der speziell auf die Sendung „The Bachelor“ zugeschnitten ist. (@ashevat) Twitter beschreibt die Idee von Custom Timelines folgendermaßen:
Custom Timelines are curated feeds. These feeds may be created by third-parties who select and provide content around interests and events, or by Twitter based on general insights. For example, the Popular Videos Timeline created by Twitter, uses similar information to how we select topics to populate and order video content.
- Sag es doch mit einem GIF: Reddit-User können jetzt mit GIFs von Giphy Kommentare verfassen (The Verge). In allen neuen Subreddits zumindest. Ältere Subreddits müssen der Integration vorher zustimmen.
Spotify
- Video-Podcasts jetzt auch in Deutschland: Spotify weitet die Funktion für Video-Podcasts auf sechs neue Märkte aus. Creator in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Brasilien und Mexiko können jetzt Video-Podcasts auf die Plattform hochladen (Newsroom Spotify). Bisher waren Video-Podcasts nur in englischsprachigen Ländern verfügbar. Da sich Vodcasts bei YouTube großer Beliebtheit erfreuen, YouTube zudem gerade an speziellen Podcast-Funktionen arbeitet (Google Watchblog), war es nur eine Frage der Zeit, bis Video-Podcasts auch auf Spotify eine größere Rolle spielen.
- Spotify kauft Musikratespiel Heardle: Im Frühjahr waren wir ja alle maximal vom Wordle-Virus erfasst. Die New York Times hatte sich daraufhin das Game einverlaibt und freut sich seitdem über tolle Klickzahlen. Heardle ist quasi eine Art Spin-off-Game, bei dem es um das Erraten von Musik geht. Mit dem Kauf (Techcrunch) erhofft sich Spotify wohl ähnlichen Erfolg wie ihn die NYT danke Wordle verbuchen konnte. Verweildauer galore.
Header-Foto von Mike Von