Was ist
Eine Woche nach den tödlichen Schüssen auf Charlie Kirk tobt der Kampf um die Deutungshoheit. Die MAGA-Bewegung instrumentalisiert den Tod des rechtsextremen Kulturkämpfers und inszeniert Kirk als Märtyrer der Meinungsfreiheit – was absurd ist, wenn man sich länger als 30 Sekunden mit seinen Überzeugungen, Äußerungen und Methoden auseinandersetzt (Vanity Fair).
Ausgerechnet jene, denen Redefreiheit sonst gar nicht radikal genug sein kann, doxxen und verleumden Menschen, die es wagen, Kirk posthum zu kritisieren (User Mag). Dutzende Menschen haben ihre Jobs verloren (NPR, Wired), darunter prominente Journalistïnnen und öffentliche Angestellte (Karen Attiah).
Die Reaktionen auf das Attentat verdeutlichen, wie weit die USA auf ihrem Weg von Demokratie in Richtung Faschismus vorangeschritten sind. Donald Trump und J. D. Vance machen Linke und Liberale für die Tat verantwortlich (NYT), obwohl keine Belege für ein politisches Motiv existieren. Das Justizministerium lässt eine Studie verschwinden, die zeigt, dass Terrorismus in den USA meist von Rechtsaußen kommt (404 Media).
Auch in Deutschland machen Rechte und Rechtsradikale klar, dass Meinungsfreiheit für sie genau dort endet, wo jemand eine andere Meinung vertritt. ZDF-Moderatorin Dunja Hayali zieht sich nach Morddrohungen und einer rechtsextremen Kampagne vorerst aus der Öffentlichkeit zurück (taz). Sie hatte Kirk in der Anmoderation eines Fernsehbeitrags zutreffend als „radikalreligiösen Verschwörungsanhänger“ bezeichnet.
Was das mit dem Netz zu tun hat
Wir sind kein Watchblog für US-Politik. Die aktuellen Ereignisse hängen aber eng mit Social Media, Netzkultur, Memes und digitaler Kommunikation zusammen – Themen, mit denen wir uns seit 15 Jahren beschäftigen.
Das lässt sich an zwei Aspekten festmachen:
- Das Opfer: Kirk selbst machte sich die Funktionslogik großer Plattformen zunutze. Seine Provokationen passten perfekt zur Aufmerksamkeitsökonomie. Er bezeichnete sich selbst als „digitalen Krieger“ und verknüpfte Offline-Veranstaltungen mit Online-Mobilisierung. So wurde Kirk zu einem der einflussreichsten Kulturkämpfer der Ultrarechten.
- Der Täter: Die Identität von Tyler Robinson ist bekannt, über seine Ideologie wird weiter spekuliert. Klar ist nur: Er war extremely online und hat etliche Botschaften hinterlassen. Die kryptischen Referenzen verwirren offenbar viele Menschen, die Games und Discord für Nischen halten, mit denen sich nur ein paar Freaks beschäftigen.
Wie Kirk zum Influencer wurde
Kirks politische Ideologie und seine Methoden wurden in der vergangenen Woche ausführlich beleuchtet, auch von deutschen Medien. Er war in vielerlei Hinsicht extrem: ultrarechts und ultrareligiös, homophob und transfeindlich, sexistisch und rassistisch (LGBTQ Nation). Andersdenkende stellte er an einen Online-Pranger und setzte sie Drohungen aus. Falls du tiefer einsteigen möchtest, empfehlen wir diese Texte:
- Charlie Kirk Was Not Practicing Politics the Right Way (404 Media)
- Warum Charlie Kirk kein Märtyrer ist (Eule)
- On the Assassination of Charlie Kirk (Nina Jankowicz)
- Dunja Hayali hat recht: So rechtsextrem & menschenfeindlich war Charlie Kirk (Volkverpetzer)
- Wer war Charlie Kirk? (DIE ZEIT)
2012 gründete Kirk Turning Point USA (TPUSA), damals war er 18 Jahre alt. Die Organisation versteht sich als rechte Studierendenbewegung, hat mehr als 850 Ortsgruppen und setzt fast 100 Millionen Dollar pro Jahr um.
Von Anfang an setzte TPUSA auf digitale Formate, Viralität und Ragebait. Kirk provozierte liberale Studierende, lud Clips hoch und erreichte schnell Millionen junger Menschen. Sein Podcast zählt zu den wirkmächtigsten Kanälen für rechtsextreme Ideologie. Kirk perfektionierte Troll-Methoden, spielte mit Memes und führte einen effektiven Kulturkampf, der radikale Positionen normalisierte (Washington Post).
Kirk unterstützte Trump seit dessen erster Amtszeit und spielte eine wichtige Rolle im Wahlkampf 2024. Ihm ging es aber nicht nur darum, Trump ins Weiße Haus zu verhelfen. Er wollte eine ganze Generation indoktrinieren und die USA grundlegend nach rechts rücken (The Atlantic). Das ist ihm bereits zu Lebzeiten in Teilen gelungen. Nach seinem Tod dürfte sein politisches Werk noch größere Wirkung entfalten.
Als wir am Tag der US-Wahl die neue Medienrealität und das Zeitalter der fragmentierten Öffentlichkeit beschrieben (SMWB), umfasste das auch rechtsradikale Politfluencer wie Kirk:
In der Summe zersplittert dadurch nicht nur das Konzept von Öffentlichkeit, sondern auch ein Grundkonsens, der wichtig für jede Demokratie ist: eine zumindest in Teilen überlappende Wahrnehmung von Fakten und Realität. Die medial vermittelten Informationshäppchen sind derart selektiv, dass sich manche Menschen nicht mal mehr auf die banalsten Dinge einigen können.
Das bereitet den Nährboden für Lügen, Gerüchte und Verschwörungserzählungen. Mit tatkräftiger Unterstützung von Superspreadern wie Elon Musk verbreiten sich kurz vor der Wahl Falschbehauptungen, Faktenchecker sind weitgehend hilflos.
Was über Robinson bekannt ist
Wir machen es kurz: zu wenig, um verlässliche Aussagen über seine Überzeugungen und Motive zu treffen. Rechte halten Robinson für einen Linken (NYT), Linke für einen Rechten (Belltower-News). Für beide Lesarten gibt es Indizien, aber keine Belege (The Verge).
Am Dienstag wurde Robinson in Utah angeklagt, die Staatsanwaltschaft fordert die Todesstrafe. Ein Teil der Gerichtsunterlagen legt nahe, dass Robinson wütend auf die transfeindlichen Äußerungen von Kirk war (Washington Post). Auch Robinsons Mutter sagt, ihr Sohn sei vor der Tat immer politischer und linker geworden.
Dem stehen Aussagen seiner Freunde und Chatprotokolle von Discord entgegen, die Ken Klippenstein auf Substack veröffentlicht hat. Demnach lebte Robinson mit einer Transperson zusammen, war sonst aber weitgehend unpolitisch:
Der Freund beschrieb Robinson als einen ziemlich typischen jungen Mann seines Alters aus Utah: jemanden, der die Natur liebte, ein Gamer war und sich für Waffen interessierte.
„Für uns alle wirkte er einfach wie ein unkomplizierter Typ, der gerne Spiele wie Sea of Thieves, Deep Rock Galactic und Helldivers 2 spielte, gerne angelte und campte“, sagte der Freund. „Es schien wirklich so, als ginge es ihm nur darum.“
Die Bezüge zu Games und Online-Subkulturen finden sich auch auf den Botschaften, die Robinson hinterlassen hat. Unter anderem beschriftete er die Patronenhülsen mit Insiderwitzen, die von vielen Politikern und Medien fälschlicherweise als linksextrem eingeordnet wurden.
Im Spiegel erklärt Christian Stöcker ausführlich und verständlich, was Sprüche wie „Hey fascist! Catch!“, „O bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao“ oder „If you read this, you are gay LMAO“ bedeuten:
Die Botschaften auf den Patronenhülsen reflektieren aber keineswegs »linke Ideologie«, wie Cox unmittelbar schlussfolgerte. Sie sind vielmehr für ein Publikum gedacht, das der Welt entstammt, in der Tyler Robinson offenbar viel Zeit verbracht hatte. Der Welt von Videospielen, Chat-Apps und Messageboards, Memes und In-Jokes. Einer Welt, in der ständige Provokation zum guten Ton gehört, genau wie Mehrdeutigkeit. (…)
Klingt verwirrend – und soll es auch sein: Ein wesentliches Merkmal der Meme-Kultur, die in den vergangenen zehn bis 20 Jahren entstanden ist, sind beständige Mutationen, Umdeutungen, Andeutungen, mit dem Ziel, einerseits ständig scherzend, andererseits für Eingeweihte mindestens unverständlich, im Zweifel maximal provozierend zu wirken.
Damit setzt Robinson eine Reihe ähnlicher Taten fort, wie Ryan Broderick beschreibt:
Der Einsatz von Memes bei politisch motivierter Massengewalt begann 2019, als ein Mann sich dabei filmte, wie er eine Moschee in Christchurch, Neuseeland, angriff. Kurz bevor er begann, sagte er den Zuschauern: „Abonniert PewDiePie.“ Monate später, in Halle, Deutschland, streamte ein Angreifer die Schießerei in einer Synagoge live auf Twitch. Im Jahr 2022 streamte ein 18-jähriger weißer Nationalist eine Schießerei in einem Supermarkt in Buffalo, New York, live. Ermittler entdeckten später, dass er dies offen auf 4chan und Discord geplant hatte und es als „real life effort shitpost“ bezeichnete.
Und im letzten Jahr soll Luigi Mangione den UnitedHealthcare-CEO Brian Thompson mit Kugeln erschossen haben, auf denen „deny“, „defend“, „depose“ stand. Tage später posierte ein 15-Jähriger für ein Foto, auf dem er das rechte „OK“-Handzeichen zeigte, bevor er angeblich eine Schulschießerei in Madison, Wisconsin, verübte. Und erst letzten Monat soll Robin Westman eine Schießerei in Minneapolis mit Patronen begangen haben, die eine Reihe von Botschaften aus dem gesamten politischen Spektrum trugen, darunter „I’m the woker baby why so queerious“, „skibidi“ und die vereinfachte Linienversion des Loss.JPG-Memes.
Stand Mittwochmittag ist weiter unklar, warum Robinson Kirk erschossen hat. Seine Ziele hat er erreicht: Kirk ist tot, und er ist selbst zum Meme geworden, über das Medien und Öffentlichkeit rätseln (Netzpolitik):
Es bereitet den Tätern wohl eine Freude, wenn alle versuchen, in diese Botschaften etwas hinein zu interpretieren. Dieser hermeneutische Akt wird dann selbst zu einem essenziellen Teil ihrer Gewalttaten.
Wie sich Berichterstattung verändern muss
In den Tagen nach dem Attentat veröffentlichten viele Medien Artikel, die wenig mit Journalismus zu tun haben. Sie spekulierten faktenfrei über Motive des Täters, schürten Hass auf Minderheiten und verharmlosten Kirks radikale Ideologie (Erin Reed). Das trifft auf große US-Medien zu (The Verge). Die Berichterstattung ließ aber auch in Deutschland zu wünschen übrig, wie Klaus Raab und Antonia Groß in zwei Altpapier-Ausgaben dokumentierten.
Ein Teil dieser Fehlleistungen hängt mit oberflächlicher Recherche und schlampiger Arbeitsweise zusammen. Das Interesse war groß, die Faktenlage dünn, also füllen manche Medien die Leerstellen mit Mutmaßungen (CJR). Diese atemlose Live-Berichterstattung tritt in vielen Breaking-News-Situationen auf. Obwohl man wenig weiß, wird pausenlos veröffentlicht, weil es klickt.
Das reicht als Erklärung aber nicht aus. Hinzu kommt eine Mischung aus Unwissen und Ignoranz, die Berit Glanz in ihrem Newsletter beklagt:
Es ist ein zunehmend brennendes Problem, dass die etablierten Institutionen seit Jahren verweigern, sich mit der Rolle von Onlinekultur auseinanderzusetzen, obwohl seit vielen Jahren Offlinegewalt aus Internetkultur entsteht.
Die Ursprünge von Gamergate liegen mehr als ein Jahrzehnt zurück. Seitdem sollte allen Redaktionen klar sein, dass Netzkultur keine obskure Nische ist. Es gibt nicht „das Internet“ und „die echte Welt“. Beides ist gleichermaßen real, im Guten wie im Schlechten. Internethumor kann großartig sein, aber auch grauenhaft und gewaltverherrlichend.
Die Berichterstattung wird dieser Bedeutung oft nicht gerecht (Katherine Dee). Das gilt ausdrücklich nicht für alle Medien. Auch in Deutschland gibt es etliche Journalistïnnen, die Netzkultur verstehen – bei kleinen Portalen, aber auch bei großen Verlagen.
Deshalb gehen wir zumindest mit der Überschrift nur eingeschränkt mit, die Übermedien der Medienkritik von Gavin Karlmeier verpasst hat: „Extrem offline: Warum Journalismus von der Internetkultur überfordert ist“. Zumindest in einem Teil der Redaktionen existiert die nötige Expertise. Nicht „der Journalismus“ ist überfordert, sondern bestimmte Medien – so wie das bei anderen Themen ebenfalls geschieht.
Inhaltlich schließen wir uns aber Gavins Wunsch nach mehr Beat-Reporterïnnen an, die Netzkultur leben:
Während es Korrespondent:innen für Landespolitik, für die AfD, für Sicherheitspolitik oder gar den Kunstmarkt gibt, wird die sogenannte Internetkultur meist von denen abgedeckt, dessen Fachbereich sie gerade berührt – angereichert mit angelesenem Wissen. Angelesenes Wissen über eine Welt, die längst keine Nische mehr ist, sich quasi minütlich weiterentwickelt und sich immer stärker an sich selbst abarbeitet.
Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass Journalistïnnen 24/7 im Netz verbringen und jede Anspielung verstehen müssen. Im Zweifel reicht es zu wissen, wer aktuelle Ereignisse fundiert einordnen kann. Man kann Fachleuten folgen und Forscherinnen anrufen, Newsletter abonnieren und wissenschaftliche Paper lesen.
Diese Kompetenzen fehlen nicht nur in vielen Redaktionen, sondern auch in der Politik. Der Tod von Charlie Kirk zeigt zum wiederholten Mal, wie gefährlich diese blinden Flecken sind. Genau wie Berit Glanz hoffen wir, dass sich bald etwas ändert (Netzpolitik):
Was es vor allem braucht, ist eine Anerkennung von Gewalt und spezifischen Kommunikationsstrukturen im Internet. Und die sind nicht auf den Computer beschränkt oder auf ein paar merkwürdige Leute, die ihre Handys viel nutzen. Sondern das ist etwas, was in unser aller Welt hineinfließt und diese verändert.
Und das Bewusstsein dafür, dass es da etwas gibt, was man eventuell nicht versteht, muss jetzt entstehen. Vor allem Menschen in institutionellen Machtpositionen sollten zur Kenntnis nehmen, dass sie dieses Wissen erwerben müssen.
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