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Corona-Verschwörungstheorien, Digitalisierung der Politik, Audio Social Networks

Corona-Verschwörungstheorien, Digitalisierung der Politik, Audio Social Networks

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Alle Artikel zum Coronavirus:


Warum so viele Menschen an Corona-Verschwörungstheorien glauben

Was ist

In den vergangenen Wochen haben Gerüchte und Fehlinformationen über Covid-19 eine neue Dimension angenommen. Wir sind längst über das Stadium der WhatsApp-Kettenbriefe hinaus, die den Ausbruch der Pandemie bestimmten. Politische Akteure nutzen die Situation, um Verschwörungstheorien zu verbreiten und Verunsicherung auszulösen – mit fatalen Folgen.

Warum das wichtig ist

Wir haben uns in diesem Newsletter mehrfach mit Corona-Quatsch beschäftigt, und die Überschriften verdeutlichen die Relevanz und Brisanz des Themas:

Der Unsinn bleibt also nicht im Netz. Es war schon vor fünf Jahren fahrlässig, Drohungen oder Hasskommentare als halb so wild abzutun, weil sie ja „nur in irgendeiner Kommentarspalte“ hingerotzt wurden. Diese Dualität aus analog und digital, real und virtuell hat sich längst überholt.

Beide Sphären beeinflussen und überschneiden sich so stark, dass wir Internet und vermeintliche Realität nicht mehr trennen können. Nach Tausenden Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte, Pizzagate, Christchurch, El Paso, Poway, Halle und Hanau liefert die aktuelle Krise einen weiteren Beleg dafür, dass die Stimmung aus dem Netz auf die Straße schwappt.

In den USA wurde kürzlich eine 37-jährige Frau festgenommen (The Daily Beast), die mit mehr als einem Dutzend Messern im Gepäck nach New York reiste, um Joe Biden umzubringen. Sie war überzeugt, dass er einem Pädophilenring angehöre, der aus hochrangigen Politikerïnnen der Demokraten besteht – eine Verschwörungstheorie aus dem Umfeld der QAnon-Bewegung, die zum wiederholten Mal dazu führt, dass Irre zu Waffen greifen.

Wir beobachten seit mehreren Wochen Dutzende deutsche Facebook-Gruppen und Telegram-Kanäle und nehmen wahr, wie die Stimmung dort zunehmend aggressiv wird. Das deckt sich mit dem (von uns leicht gekürzten) Fazit der Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich die Corona-Querfront genauer angesehen hat (Belltower News):

Diese neue Bewegung ist reizvoll für klassische Rechtsextreme. Sie sehen nun die Zeit gekommen für den viel beschworenen „Tag X“, an dem man zu den Waffen greifen darf. Genau das sehen wir momentan in zahlreichen Telegram-Kanälen. Hier geben Userinnen bekannt, dass sie bereit dazu sind, für ihren Widerstand auch Waffengewalt einzusetzen. Wir sehen hier also eine Bewegung, die alles andere als harmlos ist – und die mit ihrem proklamierten Ziel, nämlich dem Einsatz für das Grundgesetz, wirklich nichts zu tun hat.“

Was geteilt wird

Wassertrinken und Ibuprofen – diese beiden Stichwörter dürften sofort Erinnerungen an die ersten Gerüchte auslösen, die sich über Covid-19 verbreiteten. Uns kommt es so vor, als sei das eine Ewigkeit her. Tatsächlich gibt es aber immer noch Kettenbriefe, die diese alten Narrative nacherzählen.

Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen haben dazu geführt, dass eine zweite, deutlich aggressivere Welle der Fehlinformationen die Runde macht. Es wird Zweifel an der Wirksamkeit der Maßnahmen gesät und unterstellt, die Regierung nutze die Pandemie, um „endlich“ durchzuregieren.

Solche Andeutungen tauchen selbst in großen, vermeintlich seriösen Medien immer wieder auf – in sozialen Medien sind sie ungleich drastischer formuliert und oft von der Forderung begleitet, sich gegen die Maßnahmen zu wehren. All das vermischt sich zu einer toxischen Brühe, die Till Eckert von Correctiv in einem Newsletter (deshalb kein Link) so beschreibt:

Wir beobachten außerdem vermehrt, dass alte Verschwörungstheorien wieder auftauchen und sich mitunter kräftig mit neuen durchmischen: Da wäre zum Beispiel das immer wieder kehrende Feindbild Bill Gates, der aus nicht näher erläuterten Gründen „Schuld“ an einem angeblichen „Impfzwang“ sein soll, den die Bundesregierung vorbereite. Konkrete und prüfbare Tatsachenbehauptungen dazu haben wir noch nicht entdeckt, nur Spekulationen und Prognosen. Das macht es schwer für uns, solche Theorien zu entkräften – sie eignen sich nur selten für Faktenchecks.

Ein Motiv, das sich durch die zweite Welle der Desinformation zieht, ist die Suche nach vermeintlich Schuldigen. Mal ist es China, mal die Bundesregierung, mal Bill Gates. Gerade der US-Milliardär und Philanthrop wird besonders oft und heftig angefeindet. In den Kreisen der Verschwörungstheoretiker hat er George Soros als ultimatives Feindbild abgelöst (NYT).

 

Warum geteilt wird

In Briefing #629 schrieben wir mit Bezug auf den 5G-Irrsinn:

Menschen haben Angst vor moderner Technik. Menschen haben Angst vor dem Virus. Andere Menschen nutzen das aus und schüren Panik. Es ist ein „Perfect Storm“, ein Szenario, wie es sich Dan Brown nicht besser für einen seiner Verschwörungs-Thriller hätte ausdenken können.

Der letzte Satz lässt sich auf die gesamte Corona-Krise übertragen. Das liegt an mehreren Faktoren:

Der dauerhafte Ausnahmezustand

Die epistemologischen Krise

Die fluide Faktenlage

Die eingeschränkten Grundrechte

Wer dahinter steckt

Wir beobachten unterschiedliche Gruppierungen, die sich am besten mit Blick auf ihre Motivation unterteilen lassen:

Finanzielle Motive

Politische Motive

Sie alle kommen aus unterschiedlichen Ecken. Aber sie alle sehen sich als Verteidiger der Freiheit und des Grundgesetzes, alle reden von einem Notstandsregime, die meisten vergleichen die Situation auf die eine oder andere Art mit dem Jahr 1933, dem Faschismus (Lenz) oder warnen vor einem zweiten Auschwitz (Jebsen). Und alle reden von der Gleichschaltung der freien Presse.

Wer die Infodemie befeuert

Neben den Urheberïnnen des Unsinns gibt es Verbreiterïnnen, die mindestens genauso entscheidend sind:

Was die Plattformen tun können

Wir haben die Rolle von Facebook, YouTube und anderen Unternehmen in der Corona-Krise in diesem Newsletter immer wieder ausführlich beleuchtet. An unserer grundlegenden Einschätzung ändert sich nichts: Wir glauben, dass die Plattformen in den vergangenen Monaten schneller und entschiedener handeln, als sie das jemals zuvor getan haben. Dafür gebührt ihnen Respekt.

Trotzdem sind die großen Netzwerke immer noch weit davon entfernt, alles richtig zu machen:

We’re right now in the middle of a natural experiment, so what I would like to see is the platforms do more but then allow academics to test alongside them to see what the effects are. All of them are doing different things but what we’re lacking is transparency and oversight.

Be smart

Die letzten Worte überlassen wir diesmal anderen – ein Zitat stimmt sorgenvoll, eins macht Mut.

Claire Wardle warnt vor den Langzeitfolgen der Infodemie (Huffington Post), die bislang kaum diskutiert werden:

My fear is if we’ve got 18 months of conspiracies about Bill Gates, where does that lead us to as a society? We have to think about the longer term rather than if one particular piece of content breaks the rules.

Diese wichtige Einordnung von Christian Fahrenbach unterstreicht dagegen (Mailchimp), dass es um ein Vielfaches mehr vernünftige und hilfsbereite Menschen gibt als protestierende Idioten – und das gilt zum Glück sowohl für die USA als auch für Deutschland:

Tagelang haben die Bilder von martialisch Bewaffneten Protestlern die Runde gemacht, die sich gegen die angebliche Tyrannei der Coronamaßnahmen beschweren. Sie kamen dabei in den einigen Fällen auf kaum ein paar Dutzend Teilnehmer, mehr als einige Hundert waren es meines Wissens nach nie. (…) Ein Vorschlag: Geben wir solchen Demonstrationen die Luft zum Atmen, die ihnen aufgrund der Teilnehmerzahl zustehen. Rücken wir ins Verhältnis, dass Hunderte Millionen sich massiv einschränken und weitestgehend daheim bleiben. Schreiben wir darüber, dass allein in den wenigen Straßen von Midtown New York aktuell geschätzt rund 4.000 Krankenschwestern und Pfleger in Hotels untergebracht sind, angereist aus dem gesamten Land, um die Not in den überforderten Krankenhäusern der Stadt zu lindern.


Digitalisierung der Politik: Online-Sprechstunden als Facebook Livestream

Das Social Media Watchblog hat grob gesagt drei Ziele: Erstens wollen wir mit unserer Arbeit einen Beitrag für eine besser informierte Gesellschaft leisten. Zweitens soll unser Newsletter allen Leserïnnen Zeit ersparen, müssen sie doch nicht mehr selbst alle News im Blick behalten. Drittens wollen wir beim Social Media Watchblog auch als Plattform fungieren und unsere Abonnentïnnen miteinander vernetzen. Heute wird Sebastian Wenzel diesem Community-Gedanken fröhnen und mit uns Erfahrungen teilen, die er als Pressereferent der Stadt Wiesbaden bei der Durchführung von Onlinesprechstunden via Facebook Livestream gemacht hat. Vielen Dank für deinen Gastbeitrag, Sebastian!

5 Dinge, die wir gelernt haben

Einfach machen: Bei unserer ersten Onlinesprechstunde hat es an manchen Stellen gehakt und geruckelt, der Ton war nicht perfekt. Aber wer es nie ausprobiert, kann keine Erfahrungen sammeln und sich auch nicht verbessern.

Erst nachdenken, dann machen: Ganz ohne Vorbereitung sind wir natürlich nicht live gegangen. Hier drei Themen, über die wir uns Gedanken gemacht haben: Welche Fragen beantworten wir? Alle, die freundlich formuliert sind. Wie gehen wir mit Hass um? Wir verweisen auf unsere Netiquette, dokumentieren und leiten im Zweifel rechtliche Schritte ein. Was, wenn zu viele oder keine Fragen kommen? Bei zu vielen Fragen hätte unser Oberbürgermeister kürzer geantwortet, wir hätten 15 Minuten vor Schluss die Frageliste geschlossen und auf unser Bürgerreferat verwiesen. Das können Wiesbadenerinnen und Wiesbadener immer kontaktieren. Bei keinen Fragen wären wir trotzdem eine Stunde live gewesen und hätten dem Oberbürgermeister selbst Fragen gestellt. Beides ist zum Glück nicht passiert. Auch Hasskommentare waren kein Problem.

Authentisch bleiben: Bei analogen Sprechstunden redet unser Oberbürgermeister mit etwa 15 Bürgerinnen und Bürgern. Bei unseren zwei Onlinesprechstunden wurden mehr als hundert Fragen gestellt. Nicht alle konnten wir beantworten. Das haben wir offen kommuniziert. Die Nutzerinnern und Nutzer haben es geschätzt, dass wir trotzdem jede Frage aufgegriffen und erklärt haben, warum wir einige nicht beantworten können.

Viele Kanäle bedienen: Neben Facebook haben wir auf Twitter und Insta „Werbung“ (mit organischer Reichweite) für die zweite Sprechstunde gemacht. Bürgerinnen und Bürger konnten uns außerdem vorab Fragen per Mail schicken. Drauf haben wir mit einer Pressemitteilung hingewiesen. Die Aufzeichnungen der Sprechstunden haben wir auf Facebook (Nummer 1, Nummer 2) und YouTube veröffentlicht. Auch unsere lokale Tageszeitung hat berichtet (Wiesbadener Kurier). So haben wir auch Bürgerinnen und Bürger erreicht, die nicht direkt beim Live-Event auf Facebook dabei waren.

Mit Kollegen austauschen: Ihr habt weitere Fragen oder Tipps für uns? Dann freuen wir uns über den Austausch mit euch. Ihr erreicht uns unter pressereferat@wiesbaden.de.


Social Media & Journalismus


Schon einmal im Briefing davon gehört


Neue Features bei den Plattformen

Twitter

Tumblr

WhatsApp


Tipps, Tricks und Apps

Book Highlighter: Wir haben die App zwar noch nicht testen können, aber sie sieht wirklich vielversprechend aus: Mit Highlighted lassen sich Passagen aus gedruckten Werken digital verschriftlichen (Apple Appstore) und mit Tags versehen. Perfekt für alle, die regeömäßig Bücher und Paper verschlagworten möchten. Bislang ist die App nur für iOS verfügbar.

Firefox Password Manager & Burner-Email: Firefox hat einen Schwung neue Features gelauncht: Einerseits gibt es einen generalüberholten Password-Manager (Techcrunch). Andererseits bietet Firefox ein Plugin an, das kinderleicht Einmal-Emailadressen generiert, um sich bei Services anzumelden, ohne die eigene Emailadresse verwenden zu müssen (ZDnet).


One more thing

Keep it simple: Ja, Abkürzungen sind schön und gut, aber sie bedeuten nicht für alle Menschen das gleiche – vor allem haben reguläre Nutzerïnnen häufig keine Ahnung, was sich hinter den Terminologien versteckt. Von daher, keep it simple 🙆


Header-Foto von Macau Photo Agency bei Unsplash