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7 Min. Lesezeit TikTok

AfD auf TikTok: Nein, die Algorithmen sind nicht schuld

Eine neue Studie untersucht, was junge Menschen vor der Bundestagswahl in ihren Feeds sahen. Das Ergebnis ist spannend, die Erklärung greift zu kurz.

Was ist

Welche Parteien haben den Bundestagswahlkampf 2025 auf TikTok, YouTube, Instagram und X dominiert? Eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung und der Universität Potsdam versucht, die Frage zu beantworten.

Die Untersuchung „Digitalisiert, politisiert, polarisiert?“ kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie vorhergehende Datenerhebungen. Demnach profitieren AfD und Linke am stärksten von ihrer Plattformpräsenz. Das gilt insbesondere für TikTok.

Neu sind dagegen die Methodik und die Interpretation der Ergebnisse. Die Forschenden haben nicht nur die Reichweite der parteipolitischen Posts gemessen, sondern mithilfe Hunderter Testkonten analysiert, welche Inhalte Nutzerïnnen in ihren Feeds sehen.

In diesem Briefing erklären wir, warum wir die Studie für seriös, die Interpretation der Ergebnisse aber für voreilig halten.

Wie die Forschenden vorgegangen sind

Was die Studie aussagt

Die meisten Ergebnisse decken sich mit früheren Untersuchungen, über die wir Ende März ausführlich berichteten (SMWB):

Die neue Aussage lautet: TikTok setze den Fake-Profilen deutlich früher und häufiger Posts mit dem Hashtag #afd vor als andere parteinahe Inhalte. Das lasse sich nicht allein damit erklären, dass schlicht mehr solcher Posts existieren.

Woran das liegen könnte

Im Fazit heißt es:

Die AfD-Dominanz in den Feeds junger Nutzer:innen muss daher andere Ursachen haben (…). Der generische Inhalt, den TikTok und X via Empfehlungsalgorithmus für neue Nutzer:innen zwischen 21–25 Jahren vorsieht, scheinen vor allem die AfD und mit Abstrichen Die Linke zu bevorzugen (…). Das könnte beispielsweise daran liegen, dass die Plattformen diese Inhalte als besonders reaktionsstark einstufen, diese eine höhere Zuschauer:innenbindung versprechen, sich ggf. sogar leichter monetarisieren lassen und damit die wirtschaftlichen Interessen der Plattformbetreibenden besser spiegeln.

Anders ausgedrückt:

Der letzten Vermutung widersprechen wir vehement. Generell lassen sich politische Inhalte schlechter monetarisieren als harmlose Unterhaltung. Unternehmen wollen lieber in einem Wohlfühlumfeld ohne Kontroversen werben.

Das gilt insbesondere für Inhalte an den Rändern des politischen Spektrums. Es gibt einen Grund, warum Twitter nach der Übernahme durch Elon Musk reihenweise Werbekunden verloren hat. Niemand möchte seine Werbung neben antisemitischen und rassistischen Posts sehen.

Auch die zuvor geäußerte Schlussfolgerung halten wir für voreilig. Keine Frage: Die AfD profitiert von TikTok. Das bedeutet aber nicht, dass TikTok die AfD bewusst bevorzugt.

Die Empfehlungssysteme der Plattformen reagieren auf Hunderte Signale. Manche davon lassen sich extern nachvollziehen (öffentliche Likes und Kommentare). Andere sind intransparent, etwa die Verweildauer pro Video. Wenn viele Menschen vergleichsweise viel Zeit mit einem Clip verbringen (also nicht nach der ersten Sekunde weiterwischen), steigt die Wahrscheinlichkeit, dass TikTok den Inhalt weiteren Nutzerïnnen ausspielt.

Die AfD bietet vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Fragen und spricht junge Menschen direkt an. Außerdem spielt sie mit Emotionen und Ressentiments. Das lässt sich gut in Kurzvideos verpacken.

Im Mai schrieben Marcus Bösch und Jolan Gösen in einer Analyse für die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) etwa (PDF):

Die Analyse der offiziellen TikTok-Accounts politischer Parteien und Spitzenkandidat:innen zeigt deutlich: Auf TikTok ist nicht die schiere Masse an Inhalten entscheidend, sondern ihre plattformspezifische Qualität.

Wenn TikTok diese Inhalte überdurchschnittlich häufig empfiehlt, muss das nicht daran liegen, dass sie von der AfD stammen. Vielmehr produziert die AfD Videos, die gut zur Funktionslogik von Plattformen passen. Entsprechend interagieren viele Menschen mit diesen Inhalten, was wiederum den Algorithmen signalisiert: Dieser Clip performt gut, das sollten mehr Nutzerïnnen sehen.

Hinzu kommt die Überlegenheit der AfD in der Breite. Auf Landes- und Kommunalebene kann keine andere Partei mithalten. Noch wichtiger ist das große Unterstützernetzwerk aus Influencern und parteinahen Organisationen. Offizielle Accounts und Vorfeld verstärken einander, teils mit fragwürdigen bis illegalen Methoden.

Auch dazu eine Passage aus der FES-Analyse:

Auffällig ist zudem, dass die vermeintliche TikTok-Dominanz der AfD sich bei genauer Betrachtung relativiert: Zwar erzielen ihre Inhalte beachtliche Interaktionen, doch es fehlt an einer konsistenten offiziellen Strategie. Stattdessen profitiert die Partei maßgeblich von einem aktiven und teilweise orchestrierten Unterstützer:innen-Netzwerk im digitalen Vorfeld.

Viele Medien, die über die aktuelle Studie berichteten, folgten der Interpretation der Forschenden:

Wir halten es eher mit der Untersuchung des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, über die wir im Frühjahr berichteten (SMWB). Damals schrieben wir:

Der Datensatz des IDZ liefert keine Belege, dass TikTok die AfD systematisch bevorzugt.
Für Christian Donner gibt es eine andere Erklärung für den Erfolg: "Die AfD nutzt TikTok seit Jahren und hat sich die Reichweite über einen langen Zeitraum aufgebaut. Dass andere Parteien binnen weniger Monate in der Spitze aufholen konnten, zeigt eher, dass der First-Mover-Vorteil vergleichsweise klein ist und alle eine Chance haben."
Sein Kollege Harald Sick sieht ein wiederkehrendes Muster: "Die AfD hat schon immer frühzeitig mit neuen Plattformen und alternativen Medien experimentiert. Facebook, YouTube und Telegram ermöglichen es der Partei, die Gatekeeper-Funktion der klassischen Medien zu umgehen." Das sei bei TikTok ähnlich, deshalb habe die AfD frühzeitig darauf gesetzt und sich einen Vorteil verschafft.

Be smart

Die Dominanz der AfD und der Linken auf TikTok lässt sich vergleichsweise einfach messen. Komplizierter wird es bei der Frage, wie sich das auf das Wahlverhalten junger Menschen auswirkt.

Christian Endt und Lisa Goldschmidtböing haben sich für DIE ZEIT an einer Antwort versucht. Mithilfe von Kontrollvariablen haben sie Korrelation und Kausalität so gut wie möglich getrennt und ein mathematisches Modell gebaut, das uns solide erscheint. Da unsere letzte Statistik-Vorlesung schon eine Weile zurückliegt, vertrauen wir lieber auf die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Bendix Hügelmann, der die Ergebnisse der ZEIT für „völlig plausibel“ hält.

Das Fazit der beiden Datenjournalistïnnen:

Wer vor der Wahl TikTok genutzt hat, wählte später wesentlich häufiger AfD oder Linke. Der TikTok-Effekt hat sich unseren Berechnungen zufolge spürbar auf das Wahlergebnis ausgewirkt. Die AfD könnte der Plattform etwa 780.000 Stimmen verdanken, das entspricht 1,6 Prozentpunkten oder etwa zehn Sitzen im Bundestag.
Bei der Linken geht es um mehr als 500.000 Stimmen. Union und Grüne hat TikTok dagegen jeweils eine sechsstellige Anzahl Stimmen gekostet.
Ohne TikTok wäre die AfD womöglich unter ihrem symbolträchtigen Ergebnis von 20,6 Prozent geblieben. Die Kräfteverhältnisse im Parlament haben sich durch die Videoplattform aber nicht entscheidend geändert – alle Verschiebungen machen weniger als zwei Prozentpunkte aus.

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Über den Autor
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Simon Berlin befasst sich seit einem Jahrzehnt mit Künstlicher Intelligenz. Inzwischen tun das alle – aber er war dabei, bevor es cool wurde. Er schreibt für die Süddeutsche Zeitung und das Social Media Watchblog.

Über den Autor
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Martin Fehrensen hat das Social Media Watchblog 2012 ins Leben gerufen und ist seit 2019 hauptberuflich Herausgeber und Autor. Davor hat er für ZDF und Spiegel gearbeitet.