Was ist

Für TikTok tickt die Uhr. Dieses Mal wirklich. Nach Jahren der Diskussionen und einem halben Dutzend gescheiterter Verbotsversuche ziehen es die USA offenbar durch. Wenige Stunden, nachdem dieser Newsletter in Deinem Posteingang landet, wird der Senat aller Voraussicht nach einem Gesetzentwurf zustimmen, der das Ende von TikTok in den USA bedeuten könnte.

Da wir das Thema bereits am vergangenen Donnerstag ausführlich beleuchtet haben (SMWB), beschränken wir uns auf die aktuellen Entwicklungen. Zudem analysieren wir, wie sich die Situation entwickeln könnte.

Weitere Hintergründe, inhaltlichen Einordnungen und die Vorgeschichte findest Du in diesen beiden Ausgaben:

Was die USA planen

  • Am Samstag stimmte das US-Repräsentantenhaus mit großer Mehrheit einem Gesetzentwurf zu, der TikToks Eigentümer ByteDance unter Druck setzt. Entweder wird die US-Version von TikTok verkauft, oder die USA verbieten die App.
  • Inhaltlich ähnelt das Gesetz der Vorlage, die bereits im März gebilligt worden war, dann aber nicht in den Senat eingebracht wurde.
  • Der einzige Unterschied ist die verlängerte Frist für einen Verkauf. ByteDance bleiben nun 270 Tage, der US-Präsident kann weitere 90 Tage Aufschub gewähren.
  • Am heutigen Dienstag soll der Senat abstimmen, allerdings nicht nur über TikTok. Gleichzeitig geht es um Militärhilfen für Israel, Taiwan und die Ukraine. Das erhöht die Chancen, dass die Abgeordneten zustimmen.
  • Gegner des Gesetzentwurfes versuchen, die beiden Abstimmungen wieder zu trennen. Die Erfolgsaussichten sind aber gering. Gleiches gilt für Überlegungen, die Verabschiedung mit einer Filibuster-Taktik zu blockieren.
  • Es scheint darauf hinauszulaufen, dass die USA am Dienstagabend deutscher Zeit den „Protecting Americans From Foreign Adversary Controlled Applications Act“ (Congress.gov) beschließen werden.
  • Dann muss nur noch der US-Präsident unterzeichnen. Das ist aber Formsache. Joe Biden hat bereits gesagt, dass er dem Gesetz zustimmen werde, falls es Repräsentantenhaus und Senat passiert.

Wie TikTok reagiert

  • Eines ist klar: TikTok wird seinen wichtigsten Markt nicht freiwillig räumen. In einem internen Memo, über das Bloomberg und die FT berichten, schreibt TikToks Policy-Chef Michael Beckerman:
This is an unprecedented deal worked out between the Republican Speaker and President Biden. At the stage that the bill is signed, we will move to the courts for a legal challenge. (…) This is the beginning, not the end of this long process.
  • TikTok hält das Gesetz für einen Verstoß gegen die Verfassung. Zudem seien Millionen Creator und kleine Unternehmen auf die Plattform angewiesen, die ihnen TikTok biete.
  • Die Sicherheitsbedenken seien unbegründet. Man habe in den vergangenen Jahren mehr als zwei Milliarden Dollar investiert, um die Daten der US-Nutzerïnnen besser zu schützen und einen Zugriff aus China zu verhindern.
  • In den vergangenen Wochen haben TikTok-Lobbyisten versucht, diesen Standpunkt den Politikerïnnen in Washington nahezubringen – offenbar vergeblich. Vermutlich ist es kein Zufall, dass Erich Andersen, der als General Counsel für TikTok und ByteDance die Verhandlungen mit den USA leitete, seinen Posten räumen wird (The Information, Bloomberg).
  • Parallel wendet sich TikTok erneut direkt an seine Nutzerïnnen. Wer in den USA nach „tiktok bill“ sucht, sieht ein Banner, das dazu auffordert, Senatorïnnen anzurufen, um ein Verbot abzuwenden. Ein solcher Aufruf hatte sich bereits im März als Eigentor erwiesen (SMWB).
  • In einem Interview mit TikTokerin Lisa Remillard, deren Account The News Girl knapp drei Millionen Accounts folgen, wiederholt TikToks Policy-Chef seine Talking Points: Das Gesetz sei unfair, TikTok habe keine Verbindungen zu China und ermögliche bereits mehr externe Kontrolle als andere Plattformen.
  • Kurzfristig werden solche Appelle nichts mehr verändern. Der Großteil der Menschen, die TikTok nutzen, lehnt ein TikTok-Verbot ohnehin ab. Das scheint den Kongress aber nicht davon abzuhalten, den Gesetzentwurf zu verabschieden.

Wie es weitergehen könnte

  • Falls Senat und Biden zustimmen, tritt das Gesetz in Kraft. Was danach geschieht, kann niemand mit Sicherheit vorhersagen.
  • TikTok wird jedes Rechtsmittel ausschöpfen, um einen Zwangsverkauf oder ein Verbot zu verhindern. Die Chancen stehen nicht so schlecht: Ein Verbotsversuch in Montana wurde bereits gerichtlich blockiert (Washington Post), auch Trumps Executive Order scheiterte zweimal vor Gericht (NPR).
  • Ein weiterer Hoffnungsschimmer für TikTok dürfte die verlängerte Frist sein. Die läuft jetzt erst nach der US-Wahl im November aus, möglicherweise wechselt also in der Zwischenzeit die Regierung.
  • Sollte Donald Trump gewinnen, könnte er das Gesetz stoppen. Nachdem er jahrelang xenophobe und rassistische Narrative bedient hatte, um Stimmung gegen TikTok zu machen, schrieb er im März (Truth Social):
If you get rid of TikTok, Facebook and Zuckerschmuck will double their business. I don’t want Facebook, who cheated in the last Election, doing better. They are a true Enemy of the People!
  • Trumps Groll gegen Meta, das Trump zwischenzeitlich auf Facebook und Instagram gesperrt hatte, scheint immer noch tief zu sitzen. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass Rechtsaußen-Inhalte auf TikTok in den USA ähnlich erfolgreich sind wie die AfD in Deutschland (Axios).
  • Zudem hat Trump enge Verbindung zum Investor Jeff Yass, der 15 Prozent von ByteDance hält und massiv für TikTok lobbyiert (Politico). Vergangene Woche deckte die New York Times auf Grundlage von Gerichtsakten auf, wie eng Yass mit TikTok verbandelt ist.
  • Falls Biden gewinnt oder Trump erneut seine Meinung ändert, blieben ByteDance zwei Optionen: verkaufen oder die USA verlassen. Ersteres ist unwahrscheinlich. Bereits 2020 änderte China seine Regeln zur Exportkontrolle und sicherte sich damit ein Vetorecht (New York Times). Als vor einem Jahr ein Verkauf im Raum stand, hieß es, die chinesische Regierung blockiere eine Übernahme (The Information). An dieser Haltung dürfte sich nichts geändert haben.
  • Deshalb halten wir es für zu früh, um über mögliche Käufer zu spekulieren. Bloomberg bringt unter anderem Microsoft, Oracle, Meta und Google ins Spiel.
  • Sollte es zu einem Verbot kommen, schließt sich die nächste Frage an: Wie soll es durchgesetzt werden? Die USA müssten Apple und Google zwingen, die App aus den App-Stores zu verbannen. Das verhindert aber nur neue Downloads. Es bräuchte tiefe Eingriffe ins Internet, um die mehr als 170 Millionen bestehenden US-Nutzerïnnen daran zu hindern, TikTok zu öffnen.
  • In den kommenden Monaten dürfte TikTok die Bühne für ein seltsames Schauspiel werden. Einerseits wollen Demokraten und Republikaner die App loswerden, weil sie angeblich gefährlich ist. Andererseits scheinen die meisten Politikerïnnen inklusive Biden nicht bereit zu sein, im Wahlkampf auf die Plattform zu verzichten (The Verge):
Amy Kelleher, senior director at progressive strategic communications agency Bully Pulpit International, says that while it’s an option for campaigns to leave access to the TikTok audience on the table, “in most cases, it does campaigns a disservice.” She added that despite its reputation as being popular with Gen Z, many other groups of voters also show up on the platform, including Millennials and Gen Xers. TikTok is where Kelleher says she sees “a lot of initial focal points of the election happening.”
Tusk said that even if some campaigns don’t really care to invest in TikTok, “the signal it sends if you’re not [on the platform] is bad, which is, you’re old, you’re out of touch.”
  • Dieses widersprüchliche Verhalten dürfte das Misstrauen verstärken, das viele Menschen in den USA der Politik entgegenbringen:
In the end, the mixed messaging being sent by voting one way on TikTok and then continuing to campaign on the platform isn’t deterring politicians from doing exactly that. “The upside of the fact that opinions of Congress and Washington are so low is that no one expects them to be anything other than hypocrites,” reflected Tusk.

Be smart

Die aktuelle Debatte und ein mögliches Verbot könnten Auswirkungen haben, die über TikTok hinausgehen. Zum einen prägt die App längst Popkultur und Alltag fast aller Menschen in den USA – unabhängig davon, ob sie TikTok nutzen oder nicht (NYT):

Here are 19 ways of understanding how TikTok became part of American life. The music America listens to, the movies it sees, what conspiracies it believes, how it can make or break a product’s success, who it defines as a celebrity — all of it has been influenced by TikTok, for good and bad. Even if you’ve never opened the app, you’ve lived in a culture that exists downstream of what happens there.

Zum anderen droht ein Dominoeffekt in den USA und China. Beide Staaten führen ihren Handelsstreit längst auch auf technologischer Ebene. China hat viele US-Apps und Plattformen verbannt. Am Freitag traf es WhatsApp, Threads und Signal (WSJ). Ein TikTok-Verbot könnte zum Präzedenzfall werden und den Siegeszug anderer chinesischer Unternehmen in den USA stoppen (Bloomberg):

That sets the stage for a watershed legal battle between the US government and the offspring of a $240 billion startup that’s come to define China’s growing technological muscle. The outcome could define the business landscape for Chinese companies like Tencent Holdings Ltd. and PDD Holdings Inc.’s Temu with growing US ambitions. And it’s a test of how Beijing will respond to growing pressure on homegrown champions from ByteDance to Huawei Technologies Co. The proposed bill in fact deliberately calls out the potential to circumscribe apps from countries that count as foreign adversaries.

Social Media & Politik

  • Meta AI: Fragen zur Wahl in Indien unerwünscht: Seit vergangener Woche testet Meta sein KI-Tool „Meta AI“ in Indien. Userïnnen können die KI bei WhatsApp, Instagram und Messenger nutzen, um alle möglichen Fragen zu stellen — mit einer Ausnahme: Fragen rund um die seit dieser Woche beginnenden Parlamentswahlen sind nicht erlaubt (TechCrunch). Die Angst, dass Metas KI für die Verbreitung von Falschinformationen verantwortlich sein könnte, scheint groß zu sein. Ganz unbegründet sind die Sorgen um den Einfluss von KI-Werkzeugen nicht, wie erste Deepfakes von Bollywood-Stars zeigen (Der Standard).

Follow the money

  • TikTok-Konkurrent Triller wechselt Eigentümer: Lange Zeit schaffte es Triller, sich immer und immer wieder als vermeintlicher TikTok-Herausforderer Nummero Uno in die Schlagzeilen zu bringen. Auch wir kamen stellenweise an der Kurzvideo-App nicht vorbei. Doch wirklich etwas gebracht hat das große Sendungsbewusstsein von Trillers Chefetage nicht: Die finanziellen Herausforderungen wurden von Monat zu Monat größer. Nun wird das Unternehmen Teil des Hongkonger Finanzdienstleisters AGBA. Ob dies dabei helfen kann, dass Triller sich im Kampf um Userïnnen und Werbebudgets gegenüber Meta, Alphabet und ByteDance behaupten kann? (Music Business Worldwide)
  • Twitter-Alternative Post News macht dicht: Es sei einfach nicht gelungen, schnell genug zu wachsen, schreibt Gründer Noam Bardin zum Aus nach nur zwei Jahren in einem Blogpost bei — na klar — Post.News. Es gibt aber auch einfach zu viele Angebote momentan. Wir sind mit Mastodon, Bluesky und Threads schon restlos überfordert. Es wird höchste Zeit, dass alle Dienste miteinander verbunden werden. Aber dazu ganz am Ende des Briefings mehr.

Social Media & Journalismus

  • Engagement bei Facebook und Instagram: US-Medien verzeichnen herbe Verluste: Die 25 meistzitierten Nachrichtenmedien in den USA haben innerhalb von zwei Jahren (Q1 / 2022 bis Q1 / 2024) 75 Prozent ihres Facebook-Engagements und 58 Prozent ihrer Instagram-Interaktionen eingebüßt. Autsch! (The Washington Post)
  • Kanada: Deutlich weniger Engagement nach Verabschiedung des Online News Act: Welchen Einfluss hat es auf Publisher, wenn Meta Links zu News-Angeboten bei Facebook und Instagram untersagt? Der Bericht des Media Ecosystem Observatory zeigt, dass nach der Verabschiedung des Online News Act in Kanada die Facebook-Seiten überregionaler Nachrichtenagenturen etwa 64 Prozent ihres Engagements verloren haben, lokale Nachrichtenseiten verloren sogar fast 85 Prozent ihrer Interaktionen. Das Engagement für politische Seiten und Gruppen hat sich hingegen kaum verändert. Der Grund: User haben den Forscherïnnen zufolge anstatt von Links einfach Screenshots von Nachrichtenartikeln gepostet und da weitergemacht, wo sie aufgehört haben. Mmh, okay. Aber das hilft Verlagen natürlich überhaupt nicht. Die verlieren massiv an Boden.

Neue Features bei den Plattformen

Meta

  • Meta hat sein KI-Tool „Meta AI“ in den USA, Australien, Kanada, Ghana, Jamaika, Malawi, Neuseeland, Nigeria, Pakistan, Singapur, Südafrika, Uganda, Sambia und Simbabwe für alle eingeführt (Meta). In diesen Ländern können User fortan ChatGPT-mäßig Bilder direkt bei Facebook, Instagram oder WhatsApp erstellen und Infos via Chat einholen lassen. Spannend! Wir werden uns dem Thema in einer der kommenden Ausgaben noch einmal gesondert annehmen. Für heute verweisen wir auf die Berichterstattung von Zeit Online, The New York Times und The Verge.
  • Zudem hat The Washington Post einen ganz soliden Primer zur Frage, was Userïnnen mit dem neuen KI-Werkzeug bei WhatsApp, Facebook und Instagram anstellen können.

Ghost

  • Ghost wird Teil des Fediverse: Das sind doch mal gute Nachrichten! Die Newsletter- und Blogging-Plattform Ghost, mit der auch wir unsere Briefings verschicken und unsere Website hosten, hat angekündigt, noch dieses Jahr Teil des Fediverse zu werden. Konkret bedeutet das, dass sämtliche Inhalte, die bei Ghost publiziert werden, auch bei anderen Angeboten auflaufen können, die an das Protokoll ActivityPub angebunden sind — also etwa Mastodon, Flipboard, WordPress, PeerTube, Pixelfed und viele weitere. Um es etwas deutlicher zu machen: Bislang können unsere Inhalte via E-Mail oder RSS abonniert werden. Künftig können unsere Inhalte dann auch mit einer anderen App, die das ActivityṔub-Protokoll unterstützt, empfangen werden. Zudem können Kommentare zu unseren Inhalten dann bei uns auf der Website abgebildet werden, ganz egal, auf welcher Plattform die Kommentare ursprünglich verfasst wurden. Last but not least plant Ghost ebenfalls einen Feed, der abonnierte Inhalte abbildet. Ob und wie dies dann mit kostenpflichtigen Inhalten funktioniert, ist bislang nicht ganz klar. Aber in jedem Fall bedeutet die Anbindung an das Fediverse mehr Offenheit und mehr Diversität. Das kann d̵e̵m̵ ̵I̵n̵t̵e̵r̵n̵e̵t̵ der Welt nur guttun. (ActivityPub/Ghost)