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Was wirklich auf Facebook viral geht | Warum Meta Nachrichten erst 2023 verschlüsseln wird | Twitter macht jetzt auch Liveshopping | Instagram lanci

Was wirklich auf Facebook viral geht | Warum Meta Nachrichten erst 2023 verschlüsseln wird | Twitter macht jetzt auch Liveshopping | Instagram lanci

Was wirklich auf Facebook viral geht

Was ist

Vor zwei Wochen legte Meta den zweiten Widely Viewed Content Report vor (Transparency, Facebook). Der Bericht soll schaffen, was Facebook sonst gern vermissen lässt: Transparenz. Er zeigt, welche Domains, Links, Seiten und Postings in den USA die meisten Menschen erreichen.

Zunächst dachten wir, die Erkenntnisse glichen den Lehren aus dem ersten Report, den wir in Briefing #740 ausführlich analysierten. Seitdem sind aber mehrere Artikel und Recherchen erschienen, die den Bericht in einem neuen Licht erscheinen lassen. Deshalb greifen wir das Thema nun auf.

Was war

Als wir uns Ende August mit der ersten Ausgabe des Berichts beschäftigten, schrieben wir:

Um zu verstehen, warum mal wieder über Facebooks fragwürdiges Verständnis von Transparenz diskutiert wird, muss man vier Erzählstränge miteinander verweben: die Veröffentlichung des "Widely Viewed Content Report", die Rolle von Kevin Roose, die Abwicklung von CrowdTangle und einen zweiten Bericht, der nie veröffentlicht wurde.

Um uns nicht zu wiederholen, setzen wir die Inhalte des damaligen Briefings als bekannt voraus. Wer nicht alles nachlesen will, sollte zumindest diese Fakten kennen:

Was der aktuelle Bericht zeigt

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Ergebnisse aus Q3 kaum von denen der vorhergehenden drei Monate: Plagiate, Boomer-Cringe und Memes, die selbst in der Elterngruppe auf WhatsApp peinlich wären. Das deckt sich mit Erkenntnissen aus den Facebook Files (WSJ):

About 40% of the traffic to Facebook pages at one point in 2018 went to pages that stole or repurposed most of their content, according to a research report that year by Facebook senior data scientist Jeff Allen. (…) “What’s the easiest (lowest effort) way to make a big Facebook Page?” Mr. Allen wrote in an internal slide presentation the following year. “Step 1: Find an existing, engaged community. Step 2: Scrape/Aggregate content popular in that community. Step 3: Repost most popular content on your Page.”

Meta weiß genau, dass junge und talentierte Creator wenig Lust auf Facebook haben. Der Ruf ist mies, die Gen Z hat sich längst abgewandt (oder war noch nie dort). In einem weiteren Dokument der Facebook Files heißt es etwa (The Information):

Public figures and creators “lack a reason to be on FB,” according to a more than 50-page presentation shared internally at the time. That was hurting its chances of attracting young adults in the U.S., which Facebook’s own research had shown were shunning the blue app at alarming rates—in part because they viewed Facebook posts as “negative, fake, and boring.”(…) Facebook staff said their research showed young adults found the Facebook app “cluttered and filled with irrelevant content,” which made it hard for them to find and join fan communities. Plus, young adults “want uplifting and motivating content,” yet they see Facebook content as misleading, irrelevant and dull, one slide said.

Darauf Bezug nehmend bilanzierte Casey Newton (Platformer):

I can’t think of content much more misleading, irrelevant or dull than most of the material in the widely viewed content report. If Facebook is serious about reclaiming younger users, as it announced last month, this report tells them exactly where they should start.

Wer hinter dem Spam steckt

Die Kurzfassung: Menschen, die mit Reichweite Geld verdienen wollen. Besonders deutlich wird das am Beispiel von Thinkarete Lifestyle. Die Seite ist für vier der acht erfolgreichsten Postings des vergangenen Quartals verantwortlich.

Ryan Broderick hat den Betreibern hinterher recherchiert (Garbage Day) und kam nach einigen Irrwegen schließlich zu einem verblüffenden Schluss: Einer der größten Facebook-Publisher der Welt ist ein Food-Blogger aus Utah, der mit zwielichtigen bis illegalen Methoden arbeitet. Am Ende blieb für Broderick nur eine Frage offen:

The one mystery we weren’t able to figure out is why any sane person working at Facebook would feel comfortable publishing a content report that admitted that the most viral publisher on its platform this year was a barely active drop-shipping scam page full of stolen video content run by an LLC that doesn’t even exist anymore.

Warum der Bullshit gefährlich ist

Der Widely Viewed Content Report wirft kein gutes Licht auf Facebook. Das gilt in erster Linie für die Zukunft der Plattform. Die Inhalte repräsentieren zwar nur einen Bruchteil der Links, Seiten und Postings, die auf Facebook viral gehen. Trotzdem steht die Top 20 für ein grundlegendes Problem: Facebook ist nicht nur uncool, sondern spammy, cringe und billig.

Die zweifelhafte Qualität der Inhalte ist aber mehr als nur ein Problem für Facebook selbst. Das zeigt etwa ein Selbstversuch von Kaitlyn Tiffany (Atlantic), die dafür einen komplett unpolitischen Fake-Account aufsetzte:

Let’s say you never gave the platform any hint about your ideology, or how you’ve ever voted, or whether you even have. Let’s say you made yourself as bland and centrist as you possibly could be, and then let the system do its algorithmic work. Would your account get pulled into some other kind of rabbit hole? And if it did, what would be waiting there?

Nach zwei Wochen fand sie sich in einer anderen Art von Rabbit Hole wieder. Sie bekam keine extremistischen Inhalte vorgesetzt, sondern "totalen Müll", wie sie es selbst ausdrückte:

bad advice, stolen memes, shady businesses, and sophomoric jokes repeated over and over. Facebook isn’t just dangerous, I learned. It doesn’t merely have the ability to shape offline reality for its billions of users. No, Facebook is also—and perhaps for most people—senseless and demoralizing.

Tiffanys Fazit fällt bitter aus:

The results of my experiment fascinated me mostly on account of their brutality. Each post felt like a blunt-force expression of loneliness, desperation, horniness, or all three. (…) If you don’t take any of your politics to Facebook, you may not get sucked into political extremism. But there are other ways to spiral down to the lowest common denominator, and then lower and lower, and there’s no relief, and there’s no bottom.

Be smart

In einem Podcast mit dem Wall Street Journal sagte Whistleblowerin Frances Haugen kürzlich:

If I could only do one thing, I would improve transparency. Because if Facebook had to publish public data feeds daily on the most viral content, how much of the content people see is coming from groups? How much hate speech is there?

Der Widely Viewed Content Report ist ein erster Schritt, aber längst nicht genug, um sich ein vollständiges Bild zu machen. Vor allem scheint er durch selektive Auswahl von Zahlen und Daten geschönt worden zu sein (interessanterweise ist das genau das Verhalten, das Facebook gern Medien vorwirft).

Zu diesem Schluss kommt jedenfalls die Rechercheorganisation The Markup, die eigene Daten erhoben hat. In ihrem Newsletter fasst Chefredakteurin Julia Angwin das Ergebnis so zusammen (Revue):

When we ran the numbers, we found that sensational, partisan content from The Daily Wire and The Western Journal moved up in the ranks to become top performers.

Facebook wertete nur die reine Reichweite aus und zählte die Unique Users, in deren Newsfeed ein bestimmter Inhalt auftaucht. The Markup legte dagegen die Impressions zugrunde. Wenn also ein Nutzer fünf oder 50 Postings einer Seite sieht, dann zählt das bei The Markup fünf oder 50 Mal – und bei Facebook nur einmal.

Unserer Meinung nach haben beide Metriken ihre Berechtigung. Wenn wir die Zahlen von The Markup anschauen, verstehen wir aber gut, warum Facebook ausschließlich auf die Reichweite blickt. Sonst hätten die Top-20-Listen des Widely Viewed Content Report deutlich mehr rechte und rechtsradikale Inhalte enthalten. Offenbar hat Facebook also nicht nur ein Spam-Problem.


Warum Meta Nachrichten erst 2023 verschlüsseln wird

Was ist

Am Wochenende wurde bekannt, dass es noch länger dauern wird, bis Menschen auf Instagram und Facebook Ende-zu-Ende-verschlüsselt chatten können. "Meta delays encrypted messages on Facebook and Instagram to 2023", titelte der Guardian, der zuerst darüber berichtete.

Allerdings ist diese Überschrift streng genommen falsch. Der frühere Facebook-Angestellte Alec Muffet weist in seinem Blog zurecht darauf hin, dass Facebook nie versprochen hatte, E2EE 2022 auszurollen. Bei der Ankündigung 2020 war von mehreren Jahren Entwicklungszeit die Rede, es gab nie ein konkretes Datum. Also kann Meta nichts verschieben, da es ja von Anfang an so geplant war.

Was dahintersteckt

Wichtiger als solche semantischen Diskussionen ist der Grund der Ankündigung. Facebooks Sicherheitschefin Antigone Davis verweist in ihrem Op-ed im Sunday Telegraph auf die Gefahr, mit E2EE Kriminellen in die Hände zu spielen.

Insbesondere Kinderschutzorganisationen warnen seit Jahren vor kompletter Verschlüsselung. Tatsächlich verhindert E2EE, das Täter aufgespürt werden, die Kinder missbrauchen oder Darstellungen von Kindesmissbrauch hochladen, teilen und konsumieren. Auch Apple wollte kürzlich Maßnahmen gegen Child Sexual Abuse Material (CSAM) einführen und unter anderem iPhones lokal durchsuchen. Als Sicherheitsforscherïnnen und Bürgerrechtsorganisationen heftig protestierten, legte Apple die Pläne vorerst auf Eis.

Als wir das Vorhaben in Briefing #739 analysierten, schrieben wir:

Selten waren wir so hin- und hergerissen. Wir können die Argumente beider Seiten verstehen und sind trotzdem nicht sicher, wer recht hat – oder ob überhaupt jemand recht hat. (…) Wir glauben, dass es nicht darum geht, lauter zu schreien, um die Gegenseite zu übertönen. Es wäre schön, wenn die beiden Anliegen, der Schutz von Kindern und die Privatsphäre von Milliarden Menschen, nicht gegeneinander ausgespielt würden. Dafür sind beide zu wichtig.

So geht es uns auch heute wieder, wenn wir die Reaktionen anschauen, die auf Metas Ansage folgten. Manche werfen dem Konzern vor, den Schutz von Kindern nur vorzuschieben (Twitter / Evan Grier), um E2EE zu verzögern. Das halten wir für Unsinn. Man kann Meta vieles vorhalten, doch in diesem Fall geht es nicht darum, noch möglichst lange die Inhalte von Nachrichten analysieren zu können.

Ein 15-teiliger Thread des früheren Facebook-Angestellten David Thiel verdeutlicht, wie komplex das Problem ist. Wir fassen die wichtigsten Punkte zusammen:

Be smart

Bei keinem anderen Thema ist es so schwer, die richtige Balance zu finden. Datenschutz ist kein Täterschutz – aber strikte und kompromisslos eingeführte E2EE führt dazu, dass mehr abscheuliche Verbrechen nicht aufgeklärt und Täter nicht ermittelt werden können. Auf Twitter diskutieren sich mit Matthew Green, Zeynep Tufekci, Alec Muffet und David Thiel kluge Menschen die Köpfe heiß.

Auf manche Fragen gibt es keine richtigen Antworten. In diesem Fall geht es darum, einen Kompromiss zu finden, der die berechtigten Anliegen beider Seiten berücksichtigt. Deshalb waren wir erleichtert, als wir erfuhren, dass Apple seine Pläne verschiebt, und deshalb halten für es für richtig, dass sich Facebook Zeit lässt.


Facebook Files


Video Boom


Creator Economy


Schon einmal im Briefing davon gehört


Was wir lesen


Neue Features bei den Plattformen

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Facebook

Snapchat

Twitter


Header-Foto von Andre Benz