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Deutschland vs. Telegram: Der Streit spitzt sich zu | Weihnachts-Special: Doppel-Abo für 2022

Deutschland vs. Telegram: Der Streit spitzt sich zu | Weihnachts-Special: Doppel-Abo für 2022

Deutschland vs. Telegram: Der Streit spitzt sich zu

Was ist

Die neue Bundesregierung will Telegram zur Kooperation zwingen. Der Messenger soll Desinformation, Verschwörungserzählungen und strafbare Hassnachrichten endlich löschen. Doch das ist leichter gesagt als getan: Telegram hat bislang sämtliche Kontaktversuche und Bußgeldverfahren aus Deutschland ignoriert.

Warum das wichtig ist

Telegram ist die wohl wichtigste Kommunikationsplattform für viele Querdenker, Verschwörungsideologïnnen und QAnon-Gläubige. Auch Rechtsradikale vernetzen und organisieren sich dort, prominente Hassprediger wie Attila Hildmann nutzen den Messenger als Sprachrohr.

Telegram hat bislang meist tatenlos zugeschaut. Der Messenger ist für Medien, Behörden und Ermittlerïnnen kaum bis gar nicht zu erreichen. Man kann darüber streiten, ob Telegram Lügen löschen sollte – die sind schließlich nicht verboten. Doch es geht nicht nur um Inhalte im Graubereich, sondern um eindeutige strafbare Posts, die stehen bleiben.

Was auf Telegram abgeht

Einige aktuelle Beispiele zeigen das enorme Mobilisierungspotenzial und verdeutlichen, warum Wegschauen gefährlich wäre:

Der Hass bleibt nicht im Netz, sondern schwappt auf die Straße über und dient als Brandbeschleuniger für Radikalisierung (SZ). Das geschieht übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt (Rest of World).

Wie gefährlich die zunehmend gewaltbereite Querdenker-Szene ist, sieht man an den Morden in Königs Wusterhausen und Idar-Oberstein. Sascha Lobo sieht dabei eine Verbindung:

Auf die Frage, wie diese Taten zusammenhängen mit der Radikalisierung von "Querdenkern" und Konsorten, lautet eine wahrscheinliche Antwort: Telegram. Sowohl der Tankstellenmörder wie auch der Mann, der seine Familie tötete, hatten Telegram-Accounts.

Wir möchten aus dieser Korrelation keine Kausalität konstruieren. Menschen morden nicht, weil sie auf Telegram ein paar hasserfüllte Nachrichten lesen. Aber der Messenger verschafft Verschwörungserzählungen und Mordaufrufen Reichweite, was Vernetzung und Radikalisierung erleichtert. Wir haben selbst etliche Stunden im "Darknet des kleinen Mannes" verbracht und stimmen Lobos Fazit zu:

Verschwörungstheorien aller Art sind in sozialen Medien ohnehin allgegenwärtig, aber auf Telegram entwickeln sie eine besondere Energie. Weil das Teilen so einfach ist, ergibt sich in vielen Kanälen und Gruppen ein regelrechter Hagelsturm an Verschwörungsinhalten (…). Bereits ein halbes Dutzend Abonnements und Gruppenmitgliedschaften in einschlägigen Zirkeln reichen bei Telegram völlig aus, um sich in einen dauerhaften Alarm- und Angstzustand hineinzusteigern. (…) Das Ergebnis ist erschütternd: So lässt sich leicht eine selbstverstärkende Radikalisierung gegen die eingebildete Generalbedrohung durch ungefähr alle anderen erzeugen – ich nenne dieses Phänomen Widerstandsrausch, der Telegram-Amokwahn des Social-Media-Zeitalters.

Was Telegram dagegen unternimmt

Nichts.

Okay, fast nichts. Gelegentlich entfernt Telegram terroristische Inhalte (Spiegel) oder besonders krasse Straftaten, etwa Darstellungen von Kindesmissbrauch.

Im Sommer wurden auch die Telegram-Kanäle von Attila Hildmann auf Android- und iOS-Geräten blockiert. Zunächst wurde spekuliert, ob Apple und Google selbst durchgegriffen hätten, die beiden App-Store-Betreiber dementierten aber. Miro Dittrich geht davon aus, dass tatsächlich Telegram gehandelt hat – vermutlich auf Druck von Apple und Google.

Wie Telegram die Zusammenarbeit mit Behörden verweigert

In Briefing #728 beschrieben wir, wie Bundesjustizministerium (BMJV) und Bundesamt für Justiz (BfJ) im Juni vergeblich versuchten, Telegram zur Kooperation zur Bewegung. Die wichtigsten Fakten in Kürze:

Wir glauben, dass Deutschland da lange warten kann, und wünschen viel Geduld.

Eine aktuelle Recherche von WDR, NDR und SZ (Tagesschau) bestätigt diese Vermutung. Der Text endet so:

Die Beamten in Bonn hatten Telegram in ihrem Schreiben aus dem April eine zweiwöchige Frist für eine Rückmeldung gesetzt. Anderenfalls werde man "nach Aktenlage" entscheiden und müsse ein Bußgeld verhängen. Bis heute gibt es keine Antwort.

Wie die deutsche Politik den Druck erhöhen will

Die Geduld, die wir wünschten, scheint aufgebraucht zu sein. Jedenfalls haben sich in den vergangenen Tagen mehrere Mitglieder der neuen Bundesregierung und andere hochrangige Politikerïnnen zu Telegram geäußert:

Was das alles bringt

Wir stimmen den meisten der zitierten Forderungen und Aussagen zu. Das Problem: Uns fehlt der Glaube, dass sich ein Unternehmen, das seit Jahren konsequent fast alle Anfragen von Sicherheitsbehörden ignoriert, von ein paar Drohungen aus Deutschland ernsthaft wird beeindrucken lassen.

Ohnehin bezweifeln wir, dass die Bundesregierung in naher Zukunft neue Gesetze erlassen wird, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Zum einen wird in Brüssel gerade der Digital Services Act verhandelt, der unter anderem Plattformen verpflichten soll, strafbare Inhalte zu löschen und den Behörden zu melden. Zum anderen scheitert die Rechtsdurchsetzung bislang nicht an fehlenden Gesetzen, sondern an fehlender Durchsetzung geltender Gesetze.

Von einem pauschalen Verbot oder flächendeckenden Netzsperren halten wir wenig. Schließlich ist Telegram für Millionen Menschen ein ganz normaler Messenger und wird in vielen Ländern auch von Oppositionellen in autoritären Regimen genutzt. Dort ist Telegrams Weigerung, Daten herauszurücken, ein großer Vorteil. Matthias Kettemann, Experte für Internetrecht und Professor an der Universität Innsbruck, hält ein Verbot auch für verfassungswidrig (DLF):

Unsere Lösung darf nicht sein, Telegram zu sperren. Wir müssen Telegram zwingen, besser zu moderieren und klar rechtswidrige Inhalte schneller zu löschen.

Statt sich (mutmaßlich erfolglos) an Telegram abzuarbeiten, hält es Kettemann für vielversprechender, Druck auf "die großen Gatekeeper" auszuüben – also in erster Linie Apple und Google. Das halten wir ebenfalls für einen sinnvollen Weg, die Hildmann-Sperre hat gezeigt, dass Telegram reagiert, wenn der Rauswurf aus dem App-Store droht.


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Header-Foto von Andrew Amistad